Darkstars Fantasy News


20. Mai 2009

Leseprobe aus Lynn Flewelling:
Die verborgene Kriegerin

Category: News – Darkstar – 20:29

Die verborgene KriegerinIch rannte als verängstigter Junge aus Ero weg und kehrte mit dem Wissen zurück, dass ich ein Mädchen in geborgter Haut war …

Immer wieder schwärme ich hier von Lynn Flewellings großartiger Tamír Triad, deren zweiter Band “Die verborgene Kriegerin” vor kurzem ja endlich erstmals auf Deutsch erschienen ist. Der Otherworld Verlag hat mir die Erlaubnis gegeben, den Prolog und das erste Kapitel hier als Leseprobe zu veröffentlichen – eine Gelegenheit, die ich nur zu gern nutze.

Leseprobe aus “Die verborgene Kriegerin” von Lynn Flewelling

Prolog

Ich rannte als verängstigter Junge aus Ero weg und kehrte mit
dem Wissen zurück, dass ich ein Mädchen in geborgter Haut
war.
Bruders Haut.
Nachdem Lhel mir die Knochensplitter in der alten Stoffpuppe
meiner Mutter und einen kurzen Blick auf mein wahres Antlitz
gezeigt hatte, trug ich meinen Körper wie eine Maske. Meine
wahre Gestalt blieb unter einem dünnen Schleier aus Fleisch
verborgen.
Was genau danach geschah, hat sich mir nie klar erschlossen.
Ich erinnere mich, Lhels Lager erreicht zu haben. Ich erinnere
mich auch, mit Arkoniel in ihre Quelle geblickt und ein
furchtsames Mädchen gesehen zu haben, das uns anstarrte.
Als ich später fiebernd und mit Schmerzen in meinem Zimmer
in der Feste erwachte, besann ich mich nur noch des Zupfens
ihrer Silbernadel an meiner Haut und ein paar vereinzelter
Bruchstücke eines Traumes.
Aber ich war froh, wieder eine Jungengestalt zu besitzen.
Noch lange danach war ich dankbar dafür. Doch schon
damals, als ich noch so jung und unwillig war, die Wahrheit
anzuerkennen, sah ich Bruders Gesicht im Spiegel. Nur meine
Augen gehörten mir selbst – und das weinfarbene Geburtsmal
an meinem Arm. Daran knüpfte ich die Erinnerung an das
wahre Gesicht, das Lhel mir gezeigt hatte, widerspiegelt in der
sanft wogenden Oberfläche der Quelle – das Gesicht, das ich
noch nicht annehmen oder offenbaren konnte.
Mit diesem geborgten Gesicht sollte ich erstmals jenen Mann
begrüßen, der unwissentlich mein Schicksal und jenes Bruders,
Kis und sogar Arkoniels bestimmt hatte, lange bevor wir alle
geboren worden waren.

Kapitel 1

Nach wie vor am Rand dunkler Träume gefangen,
nahm Tobin allmählich den Geruch von Rinderbrühe
und ein leises, undeutliches Fließen von Stimmen in der
Nähe wahr. Sie durchdrangen die Dunkelheit wie ein
Leuchtfeuer und zogen ihn hin zum Erwachen. Schließlich
erkannte er Naris Stimme. Was tat seine Amme in Ero?
Tobin schlug die Augen auf und stellte mit einer
Mischung aus Erleichterung und Verwirrung fest, dass
er sich in seinem alten Zimmer in der Feste befand. In
der Nähe des offenen Fensters stand ein Kohlenbecken
und warf ein Muster roten Lichts durch seinen gelochten
Messingdeckel. Die kleine Nachttischlampe spendete
mehr Helligkeit und ließ Schatten im Gebälk tanzen. Die
Laken und sein Nachthemd rochen nach Lavendel und
frischer Luft. Die Tür war geschlossen, trotzdem konnte
er hören, dass Nari draußen leise mit jemandem redete.
Schlaftrunken ließ Tobin den Blick durch die Kammer
wandern, vorerst zufrieden damit, sich einfach zu Hause
zu fühlen. Einige seiner Wachsfiguren standen auf dem
Fenstersims, und in der Ecke neben der Tür lehnten die
Übungsschwerter aus Holz. Zwischen den Deckenbalken
waren die Spinnen fleißig gewesen; Netze so groß und fein
wie der Schleier einer Fürstin wogten leicht im Luftzug.
Auf dem Tisch neben seinem Bett stand eine Schale,
daneben lag ein Hornlöffel. Es war der Löffel, mit dem
Nari ihn immer gefüttert hatte, wenn er krank gewesen
war.
Bin ich krank?
Verschlafen fragte er sich, ob Ero nur ein Fiebertraum
gewesen war. Und seines Vaters und seiner Mutter Tod
auch? Ihm war ein wenig unwohl, und die Mitte seiner
Brust schmerzte, aber insgesamt fühlte er sich eher
hungrig als krank. Als er nach der Schale griff, erblickte
er etwas, das seine traumseligen Wunschvorstellungen
zerschmetterte.
Die hässliche, alte Lumpenpuppe lag weithin sichtbar
auf der Kleidertruhe am gegenüberliegenden Ende der
Kammer. Selbst vom Bett aus konnte Tobin den frischen
weißen Faden erkennen, mit dem die schmuddelige Seite
der Puppe vernäht worden war.
Tobin umklammerte die Decke, als Bruchstücke von
Bildern in sein Gedächtnis zurückfluteten. Das Letzte,
woran er sich deutlich erinnerte, war, dass er in Lhels
Eichenhaus in den Wäldern oberhalb der Feste gelegen
hatte. Die Hexe hatte die Puppe aufgeschnitten und ihm
Säuglingsknochen – Bruders Knochen – gezeigt, die sich
im Stopfmaterial verbargen. Seine Mutter hatte sie darin
versteckt, als sie das Ding angefertigt hatte. Mit einem
Knochenstück statt Haut hatte Lhel Bruders Seele wieder
an jene Tobins gebunden.
Mit zitternden Fingern fasste Tobin in den Ausschnitt
seines Nachthemds und betastete behutsam die wunde
Stelle auf der Brust. Ja, da war es: ein schmaler Grat
erhobener Haut, der mitten über sein Brustbein verlief,
wo Lhel ihn wie ein zerrissenes Hemd zusammengenäht
hatte. Tobin spürte die winzigen Erhebungen der Stiche,
aber kein Blut. Die Wunde war bereits fast verheilt, nicht
roh wie jene an Bruders Brust. Tobin tastete weiter, bis
er den harten, kleinen Klumpen des Knochenstücks unter
seiner Haut fand. Er konnte damit wackeln wie mit einem
losen Zahn.
Haut stark, aber Knochen stärker, hatte Lhel gesagt.
Tobin senkte das Kinn, blickte an sich hinab und stellte
fest, dass weder der Klumpen noch die Naht sichtbar war.
Genau wie zuvor würde niemand erkennen, was sie mit
ihm gemacht hatte.
Ein Schwindelgefühl erfasste ihn, als er sich daran
erinnerte, wie Bruder ausgesehen hatte, als er mit dem
Gesicht nach unten über ihm schwebte, während Lhel
gearbeitet hatte. Das Gesicht des Geistes war vor Schmerz
verzerrt gewesen; Tränen aus Blut waren aus seinen
schwarzen Augen und aus der unverheilten Wunde an
seiner Brust gefallen.
Tote nicht kennen Schmerz, hatte Lhel gemeint, aber sie
irrte sich.
Tobin krümmte sich gegen das Kissen und starrte elend
auf die Puppe. All die Jahre, in denen er sie versteckt hatte,
all die Angst und Sorge, und nun lag sie offen herum, auf
dass jeder sie sehen konnte.
Aber wie war sie hierher gelangt? Er hatte sie
zurückgelassen, als er aus der Stadt geflüchtet war.
Von plötzlicher Furcht erfüllt, ohne zu wissen, weshalb,
hätte er um ein Haar nach Nari gerufen, doch Scham hielt
ihn davon ab. Er war ein Königlicher Gefährte, viel zu alt,
um eine Amme zu brauchen.
Und was würde sie zu der Puppe sagen? Gewiss hatte
Nari sie inzwischen gesehen. Bruder hatte ihm einst eine
Vision gezeigt, wie die Leute sich verhalten würden,
wenn sie davon wüssten, ihre Mienen der Abscheu. Nur
Mädchen wünschten sich Puppen …
Tränen traten ihm in die Augen, ließen die Flamme der
Lampe zu einem wabernden, gelben Stern verschwimmen.
»Ich bin kein Mädchen«, flüsterte er.
»Doch, bist du.«
Plötzlich stand Bruder neben dem Bett, obwohl Tobin
die Worte des Rufes nicht gesprochen hatte. Die frostige
Gegenwart des Geistes spülte in Wogen über ihn hinweg.
»Ich bin der Junge!«, zischte Bruder. Dann fügte er mit
einem boshaften Grinsen hinzu: »Schwester.«
»Nein!« Tobin schauderte und vergrub das Gesicht im
Kissen. »Nein, nein, nein, nein!«
Zärtliche Hände hoben ihn an. Nari hielt ihn fest
und streichelte ihm über den Kopf. »Was ist denn
mein Liebling? Was ist denn los?« Sie trug noch ihr
Tagesgewand, aber das braune Haar hing ihr offen über
die Schultern. Bruder war noch da, doch sie schien ihn
nicht zu bemerken.
Tobin klammerte sich einen Augenblick an ihr fest und
verbarg das Gesicht an ihrer Schulter, wie er es früher
immer getan hatte, ehe der Stolz ihn sich von ihr lösen
ließ.
»Du hast es gewusst«, flüsterte er und erinnerte sich.
»Lhel hat es mir gesagt. Du hast es immer gewusst!
Warum hast du es mir nie gesagt?«
»Weil ich ihr befohlen habe, es nicht zu tun.« Iya trat
teilweise in den kleinen Lichtkreis der Lampe. Die Hälfte
ihres kantigen, runzligen Gesichts blieb im Schatten, aber
Tobin erkannte sie an ihrer abgetragenen Reisekluft und
dem dünnen, eisengrauen Zopf, der ihr über eine Schulter
bis zur Hüfte hing.
Auch Bruder erkannte sie. Er verschwand, aber einen
Lidschlag später flog die Puppe von der Truhe und traf
die greise Frau mitten ins Gesicht. Dann folgten die
Holzschwerter, die klapperten wie Kranichschnäbel, als
Iya sie mit einer erhobenen Hand abwehrte. Als Nächstes
begann der schwere Kleiderschrank bedrohlich zu zittern
und schabte in Iyas Richtung über den Boden.
»Hör auf damit!«, schrie Tobin.
Der Kleiderschrank verharrte, und Bruder tauchte
wieder am Bett auf. Die Luft rings um ihn knisterte vor
Hass, als er die alte Zauberin finster anfunkelte. Iya zuckte
zusammen, schrak aber nicht zurück.
»Ihr könnt ihn sehen?«, fragte Tobin.
»Ja. Er ist bei dir geblieben, seit Lhel die neue Bindung
abgeschlossen hat.«
»Kannst du ihn sehen, Nari?«
Sie schauderte. »Nein, dem Licht sei‘s gedankt. Aber ich
kann ihn fühlen.«
Tobin wandte sich wieder der Zauberin zu. »Lhel sagt,
Ihr hättet sie aufgefordert, es zu tun! Sie sagt, Ihr wolltet,
dass ich aussehe wie mein Bruder.«
»Ich habe getan, was Illior von mir verlangte.« Iya ließ
sich am Fußende des Bettes nieder, wodurch das Licht sie
vollständig erfasste. Sie sah alt und müde aus, dennoch
sprach aus ihren Augen eine Härte, die Tobin froh sein
ließ, dass Nari noch neben ihm saß.
»Es war Illiors Wille«, erklärte Iya erneut. »Was getan
wurde, wurde ebenso sehr um Skalas willen getan wie
um deinetwillen. Der Tag wird kommen, an dem du
herrschen musst, Tobin, wie deine Mutter hätte herrschen
sollen.«
»Ich will das nicht!«
»Das wundert mich nicht, Kind.« Iya seufzte, und
ein Teil der Härte wich aus ihren Zügen. »Es war nie
beabsichtigt, dass du die Wahrheit in so jungen Jahren
erfährst. Es muss ein entsetzlicher Schreck gewesen sein,
vor allem durch die Art und Weise, wie du es erfahren
hast.«
Beschämt wandte Tobin die Augen ab. Ursprünglich
hatte er gedacht, dass zwischen seinen Beinen
hervordringende Blut sei das erste Anzeichen für die Pest.
Die Wahrheit hatte sich als schlimmer erwiesen.
»Selbst Lhel wurde überrascht. Arkoniel hat mir erzählt,
dass sie dir dein wahres Gesicht gezeigt hat, bevor sie die
neue Magie wob.«
»Das hier ist mein wahres Gesicht!«
»Mein Gesicht«, knurrte Bruder.
Nari zuckte zusammen, und Tobin vermutete, dass
sogar sie ihn gehört hatte. Er warf einen eingehenderen
Blick auf Bruder; der Geist wirkte fester als seit Langem,
fast echt. Erst da wurde Tobin klar, dass er die Stimme
seines Zwillingsbruders sprechen gehört hatte, nicht nur
als Flüstern in seinem Geist wie zuvor.
»Er kann recht beirrend sein«, meinte Iya. »Könntest du
ihn bitte wegschicken? Und ersuche ihn, dieses Mal keine
Unordnung zu stiften, ja?«
Tobin war versucht, sich zu weigern, doch um Naris
willen flüsterte er die Worte, die Lhel ihm beigebracht
hatte. »Blut, mein Blut. Fleisch, mein Fleisch. Knochen,
mein Knochen.« Bruder verschwand wie das Licht einer
gelöschten Kerze, und in der Kammer fühlte es sich
schlagartig wärmer an.
»So ist es besser.« Nari ergriff die Schale, ging damit
zum Kohlenbecken und füllte sie mit der Brühe, die sie in
einem Topf auf den Kohlen wärmte. »Hier, sieh zu, dass
du davon etwas in den Magen bekommst. Du hast seit
Tagen kaum gegessen.«
Tobin schenkte dem Löffel keine Beachtung, sondern
ergriff die Schale und trank daraus. Es war Köchins
besondere Krankenbettbrühe, ein üppiges Gemisch aus
Rindermark, Petersilie, Wein, Milch und Heilkräutern.
Er leerte die Schale, und Nari füllte sie nach. Iya beugte
sich hinab und hob die zu Boden gefallene Puppe auf. Sie
setzte sie sich auf den Schoß, ordnete die ungleichmäßigen
Arme und Beine und blickte nachdenklich in das grob
gezeichnete Gesicht hinab.
Tobin schnürte es die Kehle zu, und er senkte die
Schale. Wie viele Male hatte er beobachtet, wie seine
Mutter genau so dagesessen hatte? Neue Tränen füllten
seine Augen. Sie hatte die Puppe angefertigt, um Bruders
Geist in ihrer Nähe zu halten. Es war Bruder gewesen,
den sie gesehen hatte, wenn sie die Puppe betrachtet
hatte, Bruder, den sie festgehalten, den sie auf dem Schoß
gewiegt, dem sie vorgesungen und den sie überall mit
sich herumgetragen hatte, bis zu dem Tag, an dem sie sich
aus dem Turmfenster stürzte.
Immer Bruder.
Nie Tobin.
Weilte ihr zorniger Geist immer noch dort oben?
Nari sah, wie er schauderte, und umarmte ihn erneut.
Diesmal ließ Tobin sie gewähren.
»Hat Euch wirklich Illior aufgetragen, das mit mir zu
machen?«, flüsterte er.
Traurig nickte Iya. »Der Lichtträger sprach zu mir durch
das Orakel von Afra. Du weißt, was das ist, oder?«
»Dasselbe Orakel, das König Thelátimos aufgetragen
hat, seine Tochter zur ersten Königin auszurufen.«
»Genau. Und jetzt braucht Skala wieder eine Königin,
eine des wahren Blutes, die das Land heilt und verteidigt.
Ich verspreche dir, eines Tages wirst du all das verstehen.«
Nari hielt ihn ungebrochen fest und küsste ihn auf
den Kopf. »Es galt, für deine Sicherheit zu sorgen, mein
Liebling.«
Der Gedanke ihrer Mittäterschaft schmerzte Tobin. Er
entwand sich ihr, schob sich gegen die Kissen auf der
anderen Seite des Bettes zurück und zog die Beine – lange
Jungenbeine mit spitzen Knien – unter das Nachthemd.
»Aber warum?« Tobin berührte die Narbe, dann erstarrte
er und sog bestürzt die Luft ein. »Vaters Siegel und der
Ring meiner Mutter! Ich hatte sie an einer Kette …«
»Ich habe sie hier, mein Schatz. Ich habe sie für dich
aufgehoben.« Nari holte die Kette aus der Tasche ihrer
Schürze hervor und hielt sie ihm hin.
Tobin umklammerte die Talismane mit der Hand. Das
Siegel, ein schwarzer, in einen goldenen Ring eingesetzter
Stein, wies das tief eingeschnitzte Eichensymbol von
Atyion auf, jenes großen Landguts, das Tobin nun besaß,
aber noch nie gesehen hatte.
Der andere Ring war seiner Mutter Brautgeschenk
von seinem Vater gewesen. Die Goldfassung war fein
gearbeitet, ein Rund winziger Blätter, das einen Amethyst
umschloss, der ein Relief der jugendlichen Umrisse seiner
Eltern aufwies. Er hatte schon Stunden damit verbracht,
das Bildnis zu betrachten; er selbst hatte seine Eltern nie
so glücklich zusammen gesehen, wie sie darauf abgebildet
waren.
»Wo hast du das gefunden?«, erkundigte sich die
Zauberin leise.
»In einem Loch unter einem Baum.«
»Unter welchem Baum?«
»Einem abgestorbenen Kastanienbaum im Hinterhof
des Hauses meiner Mutter in Ero.« Tobin schaute auf und
stellte fest, dass sie ihn eingehend musterte. »Unter dem
Baum in der Nähe der Sommerküche.«
»Ah ja. Dort hat Arkoniel deinen Bruder beerdigt.«
Und meine Mutter und Lhel haben ihn wieder ausgegraben,
dachte Tobin. Vermutlich hat sie den Ring dabei verloren.
»Wussten meine Eltern, was Ihr mit mir gemacht habt?«
Er bemerkte den raschen, scharfen Blick, den Iya Nari
zuwarf, bevor sie antwortete. »Ja. Sie wussten es.«
Tobins Herz sank. »Sie haben es zugelassen?«
»Bevor du geboren wurdest, hat dein Vater mich
gebeten, dich zu beschützen. Er verstand die Worte des
Orakels und fügte sich ihnen bedingungslos. Ich bin
sicher, er hat dir von der Prophezeiung erzählt, die das
Orakel König Thelátimos preisgab.«
»Ja.«
Iya schwieg einen Augenblick. »Mit deiner Mutter
verhielt es sich anders. Sie war keine so starke
Persönlichkeit, und die Geburt gestaltete sich sehr
schwierig. Und sie kam nie über den Tod deines Bruders
hinweg.«
Tobin musste schwer schlucken, bevor er die Frage
herausbrachte: »Hat sie mich deshalb gehasst?«
»Sie hat dich nie gehasst, mein Schatz. Nie!« Nari
drücke sich eine Hand aufs Herz. »Sie war nicht recht bei
Verstand, das ist alles.«
»Das genügt vorerst«, meinte Iya. »Tobin, du bist
sehr krank gewesen und hast die letzten zwei Tage
verschlafen.«
»Zwei?« Tobin blickte zum Fenster hinaus. Eine schmale
Mondsichel hatte ihn hierher geleitet; nun herrschte fast
Halbmond. »Was für ein Tag ist heute?«
»Der einundzwanzigste Erasin, mein Liebling. Dein
Namenstag ist verstrichen, während du geschlafen
hast«, antwortete Nari. »Ich sage Köchin, sie soll die
Honigkuchen für das Abendessen morgen vorbereiten.«
Verwirrt schüttelte Tobin den Kopf und starrte nach wie
vor auf den Mond. »Ich – ich war im Wald. Wer hat mich
ins Haus gebracht?«
»Tharin ist mit dir in den Armen wie aus dem Nichts
aufgetaucht, dicht gefolgt von Arkoniel mit dem armen
Ki«, sagte Nari. »Hat mir einen Todesschreck eingejagt; es
war fast wie an dem Tag, als dein Vater deine …«
»Ki?« Tobin drehte sich alles, als sich eine weitere
Erinnerung an die Oberfläche kämpfte. In seinen fiebrigen
Träumen war er in die Luft über Lhels Eiche entschwebt
und hatte aus großer Höhe auf das Land hinabgeblickt.
Dabei hatte er im Wald gleich jenseits der Quelle etwas im
Laub liegen gesehen … »Nein, Ki ist wohlbehalten in Ero.
Ich war vorsichtig!«
Doch ein kalter Knoten der Angst verfestigte sich in
seinem Bauch und presste gegen sein Herz. In seinem
Traum war es Ki gewesen, der auf dem Boden gelegen
hatte, und Arkoniel hatte neben ihm geweint. »Er hat die
Puppe hergebracht, oder? Deshalb ist er mir gefolgt.«
»Ja, mein Schatz.«
»Dann war es kein Traum.« Aber warum hatte Arkoniel
geweint?
Es dauerte kurz, bis er begriff, dass mit ihm gesprochen
wurde. Nari schüttelte ihn an der Schulter und wirkte
erschrocken. »Tobin, was ist denn los? Du bist kalkweiß
geworden!«
»Wo ist Ki?«, flüsterte er und umklammerte krampfhaft
seine Knie, als er sich für die Antwort wappnete.
»Das wollte ich dir gerade sagen«, erwiderte Nari.
Neue Sorge zeichnete ihre rundlichen Züge. »Er schläft in
deinem alten Spielzimmer nebenan. Da du so krank warst
und dich im Schlaf hin- und hergewälzt hast, und er so
schlimm verletzt war, hielt ich es für einfacher, euch beide
in getrennte Betten zu legen.«
Ohne auf mehr zu warten, kroch Tobin über das Bett.
Iya hielt ihn am Arm fest. »Warte. Es geht ihm noch
nicht besonders gut, Tobin. Er ist gestürzt und hat sich
den Kopf angeschlagen. Arkoniel und Tharin haben ihn
versorgt.«
Tobin versuchte, sich loszureißen, doch Iyas Griff war
ehern. »Lass ihn sich erholen. Tharin ist außer sich vor
Sorge gewesen und lief die ganze Zeit zwischen euren
beiden Zimmern hin und her wie ein trauriger Hund. Als
ich zuletzt nach Ki gesehen habe, schlief er neben dessen
Bett.«
»Lasst mich los. Ich verspreche, ich werde sie nicht
wecken, aber bitte, ich muss Ki sehen!«
»Warte einen Augenblick und hör mir zu.« Iya wirkte
sehr ernst. »Hör mir gut zu, kleiner Prinz, denn was ich
dir zu sagen habe, ist entscheidend für dein Leben und
das ihre.«
Zitternd sank Tobin zurück auf die Bettkante.
Iya löste den Griff und legte die Hände über die Puppe
auf ihrem Schoß. »Wie ich schon sagte, war nie geplant,
dass du die Bürde dieses Wissens schon in so jungen
Jahren tragen musst, aber nun ist es eben so. Hör mir zu
und versiegle meine Worte in deinem Herzen. Ki und
Tharin wissen nichts von unserem Geheimnis und dürfen
es nicht erfahren. Außer Arkoniel kennen nur Lhel und
Nari die Wahrheit, und so muss es bleiben, bis für dich
die Zeit kommt, dein Geburtsrecht einzufordern.«
»Tharin weiß es nicht?« Als Erstes verspürte Tobin
Erleichterung. Neben seinem Vater war es Tharin
gewesen, der ihm beigebracht hatte, wie man ein Krieger
wurde.
»Das war eines der großen Betrübnisse im Leben deines
Vaters. Er hat Tharin so geliebt, wie du Ki liebst. Es brach
ihm das Herz, ein solches Geheimnis vor seinem Freund
zu bewahren, und für ihn wurde die Bürde dadurch umso
schwerer. Nun musst du dieselbe tragen.«
»Sie würden mich nie verraten.«
»Natürlich nicht aus freien Stücken, da hast du Recht.
Beide sind stur und beherzt wie Sakors Bulle. Aber
Zauberer wie der deines Onkels, Niryn, haben Wege
und Mittel, Dinge herauszufinden. Magische Wege und
Mittel, Tobin. Sie brauchen keine Folter, um die innersten
Gedanken eines Menschen zu lesen. Sollte Niryn je eine
Verdacht darüber hegen, wer du wirklich bist, wüsste er,
in wessen Köpfen er nach den Beweisen suchen muss.«
Jähe Kälte umfasste Tobin. »Ich glaube, etwas in der
Art hat er mit mir gemacht, als ich ihm das erste Mal
begegnet bin.« Er streckte den linken Arm aus und zeigte
Iya sein Geburtsmal. »Er hat es berührt, und ich hatte ein
widerwärtiges, kriechendes Gefühl in meinem Inneren.«
Iya runzelte die Stirn. »Ja, hört sich ganz danach an.«
»Dann weiß er es!«
»Nein, Tobin, denn du wusstest es selbst nicht. Bis vor
ein paar Tagen hätte jeder, der in deinen Kopf geblickt
hätte, nur die Gedanken eines jungen Prinzen gesehen,
die ausschließlich Falken und Pferden und Schwertern
galten. Das war von Anfang an unsere Absicht, um dich
zu schützen.«
»Aber Bruder. Die Puppe. Das muss er doch gesehen
haben.«
»Lhels Magie schützt diese Gedanken. Niryn könnte sie
nur finden, wenn er wüsste, dass er danach suchen muss.
Was bislang anscheinend nicht der Fall ist.«
»Aber jetzt weiß ich Bescheid. Was soll jetzt werden,
wenn ich nach Ero zurückkehre?«
»Du musst dafür sorgen, dass er keinen Grund findet,
noch einmal in deinen Gedanken zu stöbern. Halt die
Puppe wie bisher geheim und meide Niryn, so gut du
kannst. Arkoniel und ich werden tun, was in unserer
Macht steht, um dich zu beschützen. Tatsächlich denke
ich, es ist vielleicht an der Zeit, dass man mich wieder mit
dem Sohn meines Schirmherrn sieht.«
»Ihr begleitet mich nach Ero?«
Sie lächelte und klopfte ihm auf die Schulter. »Ja. Und
jetzt geh und sieh nach deinen Freunden.«
Im Flur war es kalt, doch Tobin bemerkte es kaum. Die
Tür zu Kis Zimmer stand einen Spalt offen. Ein schmaler
Streifen silbrigen Lichts fiel heraus über die Binsen. Tobin
huschte ins Zimmer.
Ki schlief in einem alten Bett mit hohen Seiten, bis zum
Kinn von Decken verhüllt. Seine Lider waren geschlossen,
und selbst im warmen Schein der Nachttischlampe wirkte
er sehr blass. Unter seinen Augen prangten dunkle Ringe,
ein Leinenverband war um seinen Kopf gewickelt.
Tharin döste auf einem Sessel neben dem Bett,
eingewickelt in seinen langen Reitmantel. Das lange,
graublonde Haar fiel ihm in zerzausten Strähnen über
die Schultern, und auf seinen Wangen zeichnete sich
über dem kurz gestutzten Bart der Stoppelwuchs einer
Woche ab. Allein durch seinen Anblick fühlte sich Tobin
ein wenig besser; in Tharins Nähe hatte er sich immer
sicherer gefühlt.
Dicht auf diesen Gedanken folgte jedoch der Widerhall
von Iyas Warnung. Er stand vor den beiden Menschen,
die er innig liebte und denen er mehr vertraute als allen
anderen, und nun lag es an ihm, sie zu beschützen. Eine
wilde, aufrührerische Liebe stieg in seinem Herzen auf, als
er an Niryns bohrende, braune Augen dachte. Er würde
den Zauberer eigenhändig töten, wenn er versuchte, seine
Freunde zu verletzen.
Tobin schlich auf Zehenspitzen so leise wie möglich
zum Bett, dennoch schlug Tharin die müden Augen auf,
bevor er es erreichte.
»Tobin? Dem Licht sei Dank!«, stieß er gedämpft
hervor, zog den Jungen auf seinen Schoß und umarmte
ihn so heftig, dass es beinah schmerzte. »Bei den Vieren,
wir haben uns solche Sorgen gemacht! Du hast geschlafen
und geschlafen. Wie geht es dir, Junge?«
»Besser.« Verlegen befreite sich Tobin behutsam und
stand auf.
Tharins Lächeln verblasste. »Nari sagt, du dachtest,
du hättest dich mit dem Roten und Schwarzen Tod
angesteckt. Du hättest zu mir kommen sollen, statt
einfach so auszubüxen! Allein unterwegs hätte euch
Jungen alles Mögliche zustoßen können. Während des
gesamten Ritts hierher haben wir damit gerechnet, in
einem Straßengraben eure Leichname zu entdecken.«
»Wir? Wer hat dich begleitet?« Einen entsetzlichen
Augenblick fürchtete Tobin, sein Vormund könnte
ebenfalls hergekommen sein, um nach ihm zu suchen.
»Koni und die anderen Gardisten natürlich. Versuch
nicht, abzulenken. Es war nicht viel besser, euch beide in
einem solchen Zustand vorzufinden.« Dabei schaute er zu
Ki, und an seinem Blick erkannte Tobin, dass er sich immer
noch um ihn sorgte. »Ihr hättet in der Stadt bleiben sollen.
Der arme Arkoniel und die anderen hatten alle Hände
voll zu tun. Sie sind drauf und dran, vor Erschöpfung
zusammenzubrechen.« Aus seinen Augen sprach kein
Zorn, als er mit ernster Miene zu Tobin aufschaute. »Ihr
habt uns allen einen Mordsschrecken eingejagt.«
Tobins Kinn erbebte, und er ließ den Kopf hängen. »Es
tut mir leid.«
Tharin zog ihn erneut an sich und klopfte ihm auf die
Schulter. »Schon gut«, sagte er mit vor Gefühlen erstickter
Stimme. »Jetzt sind wir ja alle hier.«
»Ki wird doch wieder gesund, oder?« Tharin antwortete
nicht, und Tobin sah Tränen in den Augen des Kriegers
glitzern. »Tharin, er wird wieder gesund, ja?«
Der Mann nickte, doch ihm standen deutlich Zweifel
ins Gesicht geschrieben. »Arkoniel meint, er wird
wahrscheinlich bald aufwachen.«
Tobins Knie wurden weich, und er sank auf die
Armlehne von Tharins Sessel. »Wahrscheinlich?«
»Er muss sich mit demselben Fieber angesteckt haben,
das du hattest, und dazu noch der Schlag gegen den Kopf
…« Er streckte die Hand aus und wischte Kis dunkles
Haar von dem Verband zurück. Ein gelblicher Fleck hatte
ihn durchdrungen. »Der muss gewechselt werden.«
»Iya sagte, er sei gestürzt.«
»Ja. Und er hat sich dabei schwer den Kopf angeschlagen.
Arkoniel denkt … Na ja, es sieht so aus, als könnte dein
Dämon die Hand dabei im Spiel gehabt haben.«
Ein spitzer Eiszapfen schien sich in Tobins Eingeweide
zu bohren. »Bru… der Geist hat ihn verletzt?«
»Arkoniel glaubt, er hat Ki dazu veranlasst, deine
Puppe für ihn hierher zu bringen.«
Tobin stockte der Atem in der Brust. Wenn das stimmte,
würde er Bruder nie, nie wieder rufen. Seinetwegen
konnte Bruder verhungern.
»Du – du hast sie gesehen? Die Puppe, meine ich.«
»Ja.« Tharin bedachte ihn mit einem fragenden Blick.
»Dein Vater dachte, sie sei an jenem Tag mit deiner Mutter
in die Tiefe gestürzt und irgendwie vom Fluss erfasst
worden. Er schickte sogar einige Männer los, um danach
zu suchen. Dabei hattest du sie die ganze Zeit, nicht wahr?
Wieso hast du sie versteckt?«
Wusste Tharin auch von Lhel? Verunsichert konnte
Tobin ihm nur eine halbe Wahrheit offenbaren. »Ich
dachte, du und Vater würdet euch für mich schämen.
Puppen sind für Mädchen.«
Tharin stieß ein kurzes, trauriges Lachen aus. »Niemand
hätte dir das missgönnt. Ich finde eher schade, dass es die
Einzige ist, die sie dir hinterlassen hat. Wenn du möchtest,
könnte ich wahrscheinlich eine der schöneren auftreiben,
die sie vor ihrer Krankheit angefertigt hat. Der halbe Adel
Eros besitzt welche.«
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sich Tobin dies so
sehr gewünscht, dass es geschmerzt hatte. Aber er hatte
eine Puppe aus ihren Händen gewollt, als Beweis, dass sie
ihn liebte oder zumindest so anerkannte wie Bruder. Das
jedoch war nie geschehen. Er schüttelte den Kopf. »Nein,
ich will keine andere.«
Vermutlich verstand ihn Tharin, denn er sagte nichts
mehr dazu. Eine Weile saßen sie beisammen und
beobachteten, wie sich Kis Brust unter den Decken hob
und senkte. Tobin sehnte sich danach, sich zu ihm zu
legen, doch Ki wirkte so zerbrechlich und krank, dass er es
nicht wagte. Da er sich zu elend fühlte, um still zu sitzen,
kehrte er schließlich in sein Zimmer zurück, damit Tharin
schlafen konnte. Iya und Nari waren gegangen, worüber
Tobin froh war; im Augenblick wollte er mit keiner der
beiden Frauen reden.
Die Puppe lag auf dem Bett, wo die Zauberin gesessen
hatte. Während Tobin darauf starrte und zu verarbeiten
versuchte, was geschehen war, erfasste ihn eine Wut, wie
er sie nie zuvor empfunden hatte, so heftig, dass er kaum
zu atmen vermochte.
Ich werde ihn nie wieder rufen. Nie!
Damit packte er die Puppe, warf das verhasste Ding
in die Kleidertruhe und knallte den Deckel zu. »Da drin
kannst du für immer bleiben!«
Danach fühlte er sich ein wenig besser. Sollte Bruder
durch die Feste spuken, wenn er wollte; diesen Ort konnte
er ruhig haben, aber er würde nicht mit zurück nach Ero
kommen.
Tobin fand seine Kleider ordentlich gefaltet in einem
Fach im Kleiderschrank. Kleine Beutel mit getrocknetem
Lavendel und Minze fielen aus den Falten seines Hemdes,
als er es ergriff. Er drückte sich die Wolle ans Gesicht
und atmete in dem Wissen ein, dass Nari die Kräuter
hineingelegt hatte, nachdem sie seine Kleider gewaschen
und geflickt hatte. Wahrscheinlich hatte sie während des
Nähens am Bett gesessen und über ihn gewacht.
Der Gedanke ließ seinen Zorn auf sie verfliegen. Ganz
gleich, was sie vor all den Jahren getan hatte, er wusste,
dass sie ihn liebte, und er liebte auch sie immer noch.
Rasch zog er sich an und bahnte sich leise den Weg nach
oben.
Ein paar Lampen brannten in Nischen entlang des Flurs
im dritten Stockwerk, und durch die hoch gelegenen
Rosettenfenster strömte Mondlicht herein, dennoch blieb
der Gang schattig und kalt. Arkoniels Gemächer befanden
sich am fernen Ende, und Tobin spähte unwillkürlich mit
einem Auge zu der dicken, verriegelten Tür gegenüber
seinem Arbeitszimmer – der Tür zum Turm.
Er fragte sich, ob er dort, unmittelbar auf der anderen
Seite, immer noch den zornigen Geist seiner Mutter
spüren würde, wenn er hinginge. Doch stattdessen hielt
sich Tobin dicht an der rechten Wand.
Hinter Arkoniels Schlafzimmertür erhielt er keine
Antwort, aber unter der Tür des Arbeitszimmers daneben
lugte Licht hervor. Tobin hob den Riegel an und ging
hinein.
Überall brannten Lampen, verbannten die Schatten und
erfüllten die große Kammer mit Licht. Arkoniel saß am
Tisch unter den Fenstern, hatte den Kopf auf eine Hand
gestützt und betrachtete ein Pergament. Als Tobin eintrat,
zuckte er leicht zusammen, dann erhob er sich, um ihn zu
begrüßen.
Tobin überraschte, wie abgehärmt der junge Zauberer
wirkte. Unter seinen Backenknochen zeichneten sich
dunkel eingefallene Wangen ab, und seine Züge sahen
verkniffen aus, als wäre er krank. Sein allzeit unbändiges,
lockiges, schwarzes Haar stand in Strähnen vom Kopf ab,
und sein Hemd war zerknittert und fleckig vor Schmutz
und Tinte.
»Endlich wach«, meinte er, wobei er versuchte, sich
herzlich anzuhören, was ihm kläglich misslang. »Hat Iya
schon mit dir geredet?«
»Ja. Sie hat gesagt, ich darf niemandem davon erzählen.«
Tobin berührte seine Brust, da er das verhasste Geheimnis
nicht laut aussprechen wollte.
Arkoniel seufzte tief und sah sich abwesend im Raum
um. »Es war schrecklich, dass du es auf diese Weise
herausfinden musstest, Tobin. Beim Licht, es tut mir
leid. Niemand von uns hat damit gerechnet, nicht einmal
Lhel. Es tut mir so entsetzlich leid …« Seine Stimme verlor
sich. Immer noch sah er Tobin nicht an. »Es hätte nie so
geschehen sollen. Nichts davon.«
Tobin hatte den jungen Zauberer noch nie so bestürzt
erlebt. Zumindest hatte Arkoniel versucht, ihm ein Freund
zu sein. Im Gegensatz zu Iya, die nur auftauchte, wenn es
ihr behagte.
»Danke, dass du Ki geholfen hast«, sagte er, als sich das
Schweigen zwischen ihnen unangenehm lange hinzog.
Arkoniel zuckte zusammen, als hätte Tobin ihn
geschlagen, dann entfuhr ihm ein hohles Lachen. »Gern
geschehen, mein Prinz. Was hätte ich sonst tun sollen?
Hat sich sein Zustand verändert?«
»Er schläft noch.«
»Er schläft also.« Arkoniel kehrte zum Tisch zurück
berührte einige Gegenstände, hob sie auf und legte sie
zurück, ohne sie anzusehen.
Tobins Furcht breitete sich wieder in ihm aus. »Wird Ki
wieder gesund? Er hatte nie richtiges Fieber. Warum ist er
noch nicht aufgewacht?«
Arkoniel fingerte an einem Holzstab herum. »Es braucht
Zeit, um von einer solchen Wunde zu genesen.«
»Tharin meinte, du denkst, Bruder hat ihn verletzt.«
»Bruder war bei ihm. Vielleicht wusste er, dass wir die
Puppe brauchen würden – ich habe keine Ahnung. Er
könnte Ki verletzt haben. Ich weiß allerdings nicht, ob er
es wollte.« Abermals begann er, sich an Dingen auf dem
Tisch zu schaffen zu machen, als hätte er vergessen, dass
Tobin noch zugegen war.
Schließlich ergriff er das Schriftstück, das er zuvor
gelesen hatte, und hielt es hoch, sodass Tobin es sehen
konnte. Die Siegel und die blumig geschwungene
Handschrift waren unverkennbar. Es handelte sich um
das Werk des Schreibers von Fürst Orun.
»Iya fand, ich sollte derjenige sein, der es dir beibringt«,
sagte Arkoniel bedrückt. »Das hier ist gestern eingetroffen.
Du sollst nach Ero zurückkehren, sobald du in der Lage
bist zu reisen. Orun ist natürlich außer sich vor Zorn. Er
droht, erneut dem König zu schreiben und zu verlangen,
dass du dir einen anderen Knappen nimmst.«
Tobin sank auf einen Stuhl am Tisch. Seit ihrem ersten
Tag in Ero hatte Orun versucht, Ki auszutauschen. »Aber
warum? Es war nicht Kis Schuld!«
»Ich bin sicher, das ist ihm einerlei. Er sieht darin eine
Gelegenheit zu bekommen, was er von Anfang an wollte
– jemanden, der dich für ihn im Auge behält.« Arkoniel
rieb sich die Lider und fuhr sich mit den Fingern durchs
Haar, wodurch er es nur noch mehr zerzauste. »Eines
steht fest: Er wird nicht zulassen, dass du noch einmal
so davonläufst. Du musst ab jetzt äußerst vorsichtig
sein. Gib Orun, Niryn oder sonst jemandem nie Grund
zu vermuten, du wärst mehr als der verwaiste Neffe des
Königs.«
»Das hat Iya mir bereits erklärt. Ich sehe Niryn ohnehin
nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Er jagt mir Angst
ein.«
»Mir auch«, gestand Arkoniel, aber er sah ein wenig
mehr wie sein altes Selbst aus. »Bevor du zurückreist, kann
ich dir noch ein paar Dinge beibringen, Möglichkeiten,
deine Gedanken zu verschleiern« Er brachte den Ansatz
eines Lächelns zustande. »Keine Sorge, man muss dafür
nur alle Aufmerksamkeit bündeln. Ich weiß, dass du
Magie nicht besonders magst.«
Tobin zuckte mit den Schultern. »Anscheinend komme
ich davon nicht los, oder? Korin hat zu mir gesagt, ich
sei nach ihm der Nächste in der Thronfolge, bis er einen
eigenen Erben zeugt. Ist das der Grund, weshalb Fürst
Orun mich beherrschen will?«
»Letztlich ja. Aber vorerst hat er die Herrschaft über
Atyion – in deinem Namen zwar, trotzdem übt er sie aus.
Er ist ein ehrgeiziger Mann, unser Orun. Sollte Prinz Korin
etwas geschehen, bevor er sich vermählt …« Jäh schüttelte
der Zauberer den Kopf. »Wir müssen ihn aufmerksam im
Auge behalten. Und mach dir keine allzu großen Sorgen
wegen Ki. Orun hat in dieser Angelegenheit nicht das
letzte Wort, ganz gleich, wie sehr er sich aufplustert. Nur
der König kann darüber entscheiden. Ich bin sicher, es
findet sich alles, sobald du zurück bist.«
»Iya begleitet mich nach Ero. Ich wünschte, du kämst
stattdessen mit.«
Arkoniel lächelte, und diesmal war es ein echtes Lächeln,
freundlich, verlegen und wohlmeinend. »Ich wünschte,
das könnte ich, aber vorläufig ist es am Besten, wenn
ich hier versteckt bleibe. Von Iya wissen die Spürhunde
bereits, nicht jedoch von mir. Tharin wird bei dir sein,
und Ki.«
Als er Tobins niedergeschlagenen Blick bemerkte,
kniete er sich neben ihn und legte ihm die Hände auf die
Schultern. »Ich lasse dich nicht im Stich, Tobin. Ich weiß,
es muss sich so anfühlen, aber das tue ich nicht. Das werde
ich nie. Falls du mich je brauchst, kannst du dich darauf
verlassen, dass ich den Weg zu dir finde. Wenn sich Orun
beruhigt hat, kannst du ihn ja vielleicht dazu überreden,
dir öfter Besuche hier zu gestatten. Ich bin überzeugt
davon, Prinz Korin würde sich dabei für dich einsetzen.«
Im Augenblick war dies Tobin ein dürftiger Trost,
dennoch nickte er. »Ich möchte Lhel sehen. Bringst du
mich hin? Nari würde mich nie alleine hinauslassen, und
Tharin weiß nach wie vor nichts von ihr, oder?«
»Nein, wenngleich ich mittlerweile mehr denn je zuvor
wünschte, es wäre anders.« Arkoniel erhob sich. »Ich
begleite dich gleich morgen früh zu ihr, in Ordnung?«
»Ich will aber jetzt gehen.«
»Jetzt?« Arkoniel spähte zum dunklen Fenster. »Es ist
nach Mitternacht. Du solltest zurück ins Bett …«
»Ich habe tagelang geschlafen! Ich bin nicht müde.«
Arkoniel lächelte erneut. »Aber ich, und Lhel schläft
bestimmt auch. Morgen, ja? Wir können aufbrechen, so
früh du willst, sobald es hell ist. Komm, ich begleite dich
nach unten und sehe dabei gleich nach Ki.« Er deutete
nacheinander auf die Lampen und löschte sie alle bis auf
jene an seinem Ellbogen. Dann schauderte er zu Tobins
Überraschung und schlang die Arme um sich. »Nachts ist
es hier oben richtig gespenstisch.«
Als sie das Arbeitszimmer verließen, schaute Tobin
unwillkürlich beunruhigt zur Turmtür, und er war sicher,
den Zauberer dasselbe tun zu sehen.

(c) Otherworld Verlag

Wer jetzt neugierig geworden ist und wissen will, wie es weitergeht, kann den Roman hier bestellen!

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