England im Zeitalter der Industrialisierung. Das Leben ist hart, besonders auf dem Land. Der Bauer Thomas Jobson muss sich abmühen, um dem kargen Boden seiner Felder wenigstens die nötigsten Früchte abzutrotzen. Dennoch lebt er ein recht zufriedenes Leben mit seiner kleinen Familie: seiner Frau Betty, seiner kleinen Tochter Sheila und seinem neugeborenen Sohn. Bis eines Tages der Säugling bei einem Ausflug in den Wald aus seinem Körbchen geraubt wird. Hat ein wildes Tier den Jungen erbeutet? Wurde er entführt? Die Bewohner von Dartmore sollen es nie erfahren, denn trotz groß angelegter Suchaktion bleibt das Neugeborene verschwunden. Betty ist untröstlich. In ihrer Verzweiflung stiehlt sie sich eines Nachts sogar aus dem Haus und schwört sich dem Kult der Feenkönigin an und bittet diese, ihr ihr Kind zurückzubringen.
Tatsächlich liegt kurz darauf ein Baby in einem Körbchen von der Haustür der Jobsons. Betty ist überglücklich, aber ihr Mann ist skeptisch. Handelt es sich bei dem kleinen Knirps tatsächlich um ihren Sohn? Oder ist das Kind vielmehr ein Changeling, ein Wechselbalg? Der Kleine, Scrubby, wird trotzdem in die Familie aufgenommen. Er entwickelt sich mit den Jahren zu einem aufgeweckten, sehr naturverbundenen jungen Wildfang. Er hat die Fähigkeit, die Naturgeister zu sehen, die sich sonst vor den Augen der Sterblichen verbergen: die Dryaden in den Bäumen, die Nixen der Seen, die Kobolde und Leprechauns von Wald und Flur. Scrubby fühlt sich fast mehr zu Hause in den Wäldern als im Haus seiner Eltern. Dann zwingt die Armut die Familie Jobson jedoch ebenso wie ihre anderen Nachbarn zur Landflucht. In der Stadt London wollen sie ihr Glück versuchen, wo Arbeiter in den Fabriken händeringend gesucht werden. Scrubby fällt es schwer, seine Feenfreunde hinter sich zu lassen. Wird das Leben der jungen Familie dort tatsächlich um so vieles leichter werden? Und wird er in der Stadt der Schornsteine den Wesen der Anderswelt weiterhin begegnen?
Beurteilung:
“Die Missgeburt” ist nicht nur der erste Fantasy-Comic des noch jungen Verlags Piredda, sondern auch der Auftakt der Alben-Reihe “Die Legende vom Changeling”. Der Klappentext verrät über die neue Reihe folgendes:
“Die Legende besagt, dass alle hundert Jahre ein junger Knabe seinen Eltern von den Feen weggenommen wird, und dass er verwandelt zurückkehren wird. Fortan wird er sich mit der Natur und ihren magischen Kräften verständigen können. Man sagt, dass dieser Knabe die unheilvollen Ween bekämpfen wird, die sich dem Herrn des Chaos verschrieben haben. Ferner sagt man, dass von seinem Kampf die Zukunft der Geschöpfe des Lichts abhängen wird.”
Wer durch diesen Teaser einen epischen High Fantasy-Comic erwartet, sitzt einem Irrtum auf. Vom ultimativen Kampf des Guten gegen das Böse sieht man in “Die Missgeburt” noch recht wenig. Zwar schweben immer mal wieder magische Gestalten durch die Geschichte und zum Ende der Handlung betritt auch noch eine zwielichtige Gestalt die Bildfläche, die der Comicreihe eine neue Richtung zu geben verspricht, schlussendlich ist der Auftaktband der Reihe aber eher kritisches Sozialdrama mit phantastischen Elementen. Die schwere Zeit der Industrialisierung und die Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung durch geldgierige Fabrikenbesitzer spielen eine große Rolle. Dadurch wirkt “Die Missgeburt” stellenweise etwas unfokussiert, lässt sich aber nichtsdestotrotz recht gut lesen. Das Cliffhanger-Ende macht neugierig darauf, wie die Reihe weiter verläuft und schürt die Hoffnung, dass die Geschichte zunehmend phantastischer wird. Als Einzelband betrachtet “Die Missgeburt” wirkt der Comic noch zu unausgegoren.
Trotzdem ist der erste Teil der “Legende vom Changeling” ein Album in schöner franko-belgischer Tradition: Die Zeichnungen von Xavier Fournquemin sind stimmungsvoll und vor allem in ihren Naturdarstellungen überzeugend; zur Atmosphäre trägt die schöne Kolorierung von Scarlett Smulkowski massgeblich bei. Die Texte stammen von Pierre Dubois. Mitunter holpern diese ein bisschen, mit steigender Seitenzahl findet der Autor jedoch auch einen angenehmen Rhythmus. Ins Auge fällt darüber hinaus allerdings sofort die hochwertige, schöne Aufmachung des Hardcover-Bandes. Der Piredda Verlag setzt eindeutig auf Qualität. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und sich – sowohl inhaltlich wie äußerlich – mit den Werken des Splitter Verlags messen.
Fakten:
Titel: Die Missgeburt
Reihe: Die Legende vom Changeling (Kapitel 1)
Autor: Pierre Dubios
Illustrator: Xavier Fourquemin
Übersetzung: Martin Surmann
Verlag: Piredda Verlag
Aufmachung: Hardcover, A4, 56 Seiten
Preis: 13,50 EUR
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