Eine junge Frau stolpert ohne Erinnerung an ihre Vergangenheit in einer kalten Winternacht durch das nächtliche New York. Wendigos jagen sie, gefährliche, wolfsartige Wesen, die aus Schnee und Eis geboren zu sein scheinen. Den Grund dafür kennt sie nicht, die sich an nichts erinnert außer ihren Namen: Scarlet Hawthorn. Sie glaubt nicht mehr daran, den arglistigen Monstern entkommen zu können, als sie an einer Straßenkreuzung Miss Anthea Atwood trifft. Die alte Frau beschließt, Scarlet zu helfen und nimmt sie unter ihren Schutz.
In Myrtles Mill, einer umgebauten Windmühle, in deren Inneren Sommer herrscht, obwohl New York überall sonst von der eisigen Faust des Winters umklammert wird, lernen sie sich näher kennen. Anthea glaubt, dass Scarletts Schicksal mit den seltsamen Vorkommnissen in Verbindung steht, die derzeit die Metropole in Angst und Schrecken versetzen: Menschen verwandeln sich in Eisstatuen, Hoffnung auf Erlösung scheint es nicht zu geben. Gemeinsam mit dem Draufgänger Jake und einer lebenden Alraune machen sich Scarlett und Miss Anthea daran, das Rätsel zu lösen. Bald kommen sie der geheimnisvollen Lady Solitair auf die Spur, der schneeweißen Fremden, die in New York aufgetaucht ist und die die Gebieterin der Wendigos sein soll …
„Somnia“ markiert Christoph Marzis Rückkehr in die Welt der Uralten Metropolen. Diese hat er bereits in seiner Jugendbuchtrilogie um Emily Laing („Lycidas“, „Lilith“ und „Lumen“) erforscht. Es ist jedoch höchst erfreulich, dass „Somnia“ ohne jegliche Vorkenntnisse genossen werden kann, ja sich der Lese- bzw. Hörgenuss allenfalls noch verstärkt, wenn man die Romane um Emily und ihre Gefährten noch nicht kennt. Alle anderen freuen sich vielleicht, dass die eine oder andere Figur aus der früheren Trilogie einen mal mehr, mal minder großen Auftritt eingeräumt bekommt, könnten aber darüber etwas enttäuscht sein, dass sich gewisse Motive der ursprünglichen Reihe hier wiederholen. Trotzdem möchte ich „Somnia“ sowohl auch diesen Lesern ans Herz legen (es passiert genug Neues und das neue Setting ist wirklich wunderbar!), als auch jenen, die von „Lycidas“ nicht so sehr begeistert waren.
Wie das?
Zum einen ist „Somnia“ deutlich erwachsener als Marzis Jugendbuchtrilogie. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Scarlett eine junge Frau um die 30 ist und kein Teenager. Zum anderen wird der Roman nicht mehr aus der Sicht Wittgensteins erzählt (dem Ich-Erzähler der vorhergehenden Bände), sondern aus der Sicht von Miss Anthea – und die hat eine doch etwas andere Stimme als der Alchemist. Sie erzählt stimmungsvoll, aber wesentlich geradliniger als Wittgenstein und verliert sich nicht immer wieder in Wiederholungen. Wen das ebenso wie mich an den Rand des Wahnsinns getrieben hat, kann hier also getrost aufatmen. Wo „Lycidas“ zudem an eine Kreuzung aus Neil Gaiman und Charles Dickens erinnert hat, findet „Somnia“ wesentlich gelungener seinen eigenen Rhythmus. Wenn überhaupt, dann hat mich „Somnia“ an die düster-mythologische Welt des Dunklen Ritters erinnert. Das liegt sicher vor allem daran, dass Marzi New York meist bei seinem Spitznamen Gotham nennt – jenem historischen Spitznamen, der heutzutage vor allem durch das Batman-Universum berühmt geworden ist. Auch dort trifft man auf mystisch-magische Gestalten wie etwa die Pflanzenformende Poison Ivy. Diese treten hier zwar nicht in Erscheinung, der Flair ist jedoch recht ähnlich: Es ist eine dunkle, nächtliche Stadt, durch die schneidender Wind Schneeflocken treibt, in der sich unsere Figuren bewegen.
Die Haupthandlung – Scarlets Suche nach ihrer Vergangenheit und die Auflösung des Rätsels, wer hinter den Eistoten steckt – verwebt Christoph Marzi mit zahlreichen Legenden, Sagen und Märchen diverser Kulturkreise: Indianische, europäische, morgenländische wie fernöstliche. Gerade das trägt zur Stimmung von „Somnia“ bei. Die Haupthandlung wird immer wieder zur Nebenhandlung, wenn Marzi von verfluchten chinesischen Prinzessinnen erzählt oder von den Tierfabeln amerikanischer Ureinwohner. Darüber hinaus erfährt man praktisch nebenbei viel über die Besiedlung Amerikas und die Anfänge der Industrialisierung: Bis hin zu den schrecklichen Lebensbedingungen in den Ghettos der großen Städte. …
Als Sprecherin für das Hörbuch hat Audible Anke Reizenstein verpflichtet. Die dürfte bei der weiblichen Zuhörerschar vermutlich vor allem aufgrund ihrer Synchronsprechertätigkeit als Miranda Bailey in Greys Anatomy bekannt sein. Darüber hinaus hat sie bereits in der Hörbuchversion von „Lilith“ die Passagen von Eliza Holland eingelesen. Mit Einfühlungsvermögen verkörpert sie die Ich-Erzählerin Anthea in „Somnia“, ihr sehr angenehmer Sprechstil führt wunderbar durch die Geschichte. Anke Reizenstein ist eine Stimme, von der ich gern mehr Hörbücher vorgetragen bekommen würde!
Fazit:
Alles in allem ist „Somnia“ mehr als ein würdiger Nachfolger von Christoph Marzis Trilogie um die Uralten Metropolen. Es ist ein erwachseneres, für sich stehendes Abenteuer, das Lust auf mehr macht!
Das Hörbuch ist übrigens über 15 Stunden lang und ist eine Exklusiv-Produktion von Audible. Zur Hörprobe und zum Download geht es hier.