Wo Nacht und Norden enden, liegt über Nebeln die Feste der Schneekönigin …
Mein liebster Kai Meyer-Roman ist zweifellos sein wunderschönes Wintermärchen „Frostfeuer“. Er erzählt darin die Geschichte der kleinen Maus, die Ende des 19. Jahrhunderts in einem Nobelhotel von St. Petersburg als Dienstmädchen arbeitet und unfreiwillig zwischen die Fronten beim magischen Kampf zweier mächtiger Gegnerinnen gerät. Eine davon ist die kecke englische Zauberin Tamsin Spellwell, eine Art Meyer’sche Mary Poppins. Die andere ist keine geringere als die eisige Herrscherin des hohen Nordens selbst: die Schneekönigin. Tamsin Spellwell hat der grausamen Herrin über Eis und Schnee einen Zapfen ihres Herzens gestohlen. Seither blutet die Macht der Kälte aus der Königin heraus und überzieht die Welt mit einem eisigen Winter. Im Grand Hotel Aurora treffen die beiden Kontrahentinnen wieder aufeinander …
Im Splitter Verlag ist nun mit „Herzzapfen“ der erste Teil der auf drei Teile angelegten Comicadaption von „Frostfeuer“ erschienen. Adaptiert wurde der Roman textlich von Yann Krehl, der bereits für diverse andere Meyer-Romane eine Comicfassung verfasst hat (u. a. die ebenfalls bei Splitter erscheinende „Wolkenvolk“-Reihe). Er hält sich textlich sehr eng an die Vorlage, zitiert den Roman nahezu eins zu eins. Auch wenn hier und da ein wenig Freiheit dem Comic sicher gut getan hätte, fängt er dadurch vor allem zum Anfang wunderbar die poetische Sprache des Buches ein. Das gilt auch für die Zeichnungen aus der Feder von Marie Sann. Vor allem das eisig-blaue Winterreich der Schneekönigin weiß sie in stimmungsvolle Bilder zu übertragen. Den Szenen im Hotel hingegen, die einen gewissen Sepia-Charme verströmen, hätte ein bisschen mehr Mut bei der Farbauswahl gut getan. Sann liefert klassische Ton-in-Ton-Bilder ab, die zwar die Geschichte transportieren, aber dennoch etwas unspektakulär ineinander übergehen. Ansonsten konzentriert sich die Künstlerin auf die Figurenzeichnungen, Details setzt sie eher spärlich ein. Gerade, wenn Maus mit der Schneekönig interagiert, zaubert Marie Sann eine Dynamik in die Bilder, die man in anderen Sequenzen etwas vermisst.
Trotz dieser Kritik ist „Herzzapfen“ eine gelungene Adaption und ein spannender Auftakt der Comic-Trilogie: Auf 48 Seiten werden die Hauptfiguren der Geschichte gut eingeführt, die Geschichte verströmt auch in Bildern einen märchenhaften Charme und die Handlung des dialoglastigen Comics überzeugt ohnehin. Zudem zeichnet das Comicalbum die gewohnte Splitter-Qualität aus: Hochformatig, edles Coverdesign und eine gute Papierqualität, die die Farbgebung wunderbar zur Geltung bringt. „Herzzapfen“ ist der richtige Comic für die anbrechende kalte Winterzeit und – nicht nur – Kai Meyer- und Märchenfans zu empfehlen!
Zum Splitter-Künstlerblog von Marie Sann geht’s hier und zu dem von Jan Krehl hier!
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