Nach über eineinhalb Jahren Wartezeit ist im Dezember vergangenen Jahres unter dem Titel “Die Walküre” der zweite Teil der inspirierten Comic-Trilogie “Siegfried” erschienen. In dieser frankobelgischen Graphic Novel erzählt der Künstler Alex Alice (hier Texter und Zeichner in einer Person) seine ganz eigene Version der berühmten Saga vom Drachentöter und dem Ende der nordischen Götter. Um die breitgetretenen Trampelpfade konformerer Sagennacherzählungen macht er dabei einen großen Bogen. Geschickt kombiniert er klassische Motive, versetzt sie jedoch in einen frischen Kontext.
Ein Wort zur Trilogie selbst
Das Volk der Nibelungen ist bei Alice ein nichtmenschliches, gnomenhaftes Volk, dessen Angehörige aus ihrer Heimat vertrieben wurden, als es einem von ihnen, Fafnir, gelungen ist, das Gold der Götter zu stehlen. Die ungebändigte Macht, die diesem Schatz innewohnt, hat Fafnir nämlich wahnsinnig gemacht und in ein schreckliches, verunstaltetes Wesen verwandelt, das als letzter Exilant die unterirdische Welt der Nibelungen bewohnt. Auch die Götter, an ihr eigenes Gesetz gebunden, können ihn nicht strafen. Sie hoffen auf einen Helden, dem das Unmögliche gelingt. Der Nibelung Mime glaubt, diesen in Siegfried gefunden zu haben, dessen Großvater kein geringerer ist als Odin selbst, Herrscher über alle Götter. Von diesem göttlichen Erbe weiß der junge Halbstarke aber (noch) nichts. Der Nibelung Mime hat den letzten Wunsch von Siegfrieds verstorbener Mutter erfüllt und den Jungen in Unkenntnis darüber erzogen, dass es so etwas wie Götter gibt. So soll er zu einem mutigen Mann heranwachsen, der selbst die Macht des Allvaters nicht fürchtet.
Der zweite Band
“Die Walküre” erzählt von Siegfrieds und Mimes Reise ins Land der Nibelungen, wo der junge Held dem Willen seines zwielichtigen Lehrmeisters zufolge Fafnir stellen soll. Es ist eine Reise, bei der es ihnen nur unter großer Anstrengung gelingt, einen endlos scheinenden verwunschenen Wald zu verlassen und das Land der Riesen zu durchqueren. Bei Alice sind diese Riesen aber keine lebenden Wesen, sondern beeindruckende Naturgewalten wie etwa reißende Wasserfälle oder unbezwingbare Bergklippen. Nicht nur, aber auch diese Zeichnungen phantastischer Landschaften, mal licht und verzaubert, mal düster und verflucht, setzt der Künstler eindrucksvoll in Szene: Nadelspitze Bergklippen, um die sich Nebelfetzen winden, unberechenbare Wassermassen, die sich unerbittlich ihren Weg bahnen, undurchdringliche Mischwälder, denen das Spiel aus Licht und Schatten ein unheimliches Angesicht verleiht – ihr Anblick lädt den Comicleser zum Verweilen ein. Und hilft ihm dabei, in eine ungezähmte, archaisch-wilde Welt abzutauchen.
Um den Pathos, der das ganze Werk durchdringt, etwas aufzulockern, macht Alice den Nibelungenschmied Mime nicht nur zu einem zwielichtigen, sondern auch zu einem grantigen Charakter, dessen Talent für Missgeschicke und seine absonderlichen Einfälle (auf seiner Reise durch Schluchten und Bergkämme ist Mime nicht bereit, auf seinen Amboss zu verzichten, den er in einem Beutel auf seinem Rücken mitschleppt) für kleine, amüsante Einlagen sorgen. Dennoch ist es vor allem die schwierige, tragische Hass-Liebe-Beziehung von Mime und Siegfried, die nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Es fällt mitunter schwer, auch nur einen der beiden sympathisch zu finden.
Leichter fällt das schon bei dem anderen zentralen Charakter dieses Bandes, der Walküre. Sie hat die Seherin Völva aufgesucht (ebenfalls ein wunderbar mysteriöser, grotesker Charaker), um von ihr mehr über Siegfrieds Abenteuer zu erfahren. Womit die Unsterbliche jedoch nicht gerechnet hat ist, dass ihr eigener Schicksalsweg untrennbar mit dem Siegfrieds verbunden ist. Die Völva gewährt der Walküre Einblicke in die Zukunft. Ungläubig beobachtet die göttliche Kriegerin, wie sie Siegfried unterstützt und damit das eherne Gesetz des Vaters aller Götter bricht – eine Tat, die, das weiß sie, von Odin nicht ungesühnt bleiben darf …
Beeindruckende Bilderfluten
Dafür, dass das Album stolze 72 Seiten stark ist, passiert nicht allzu viel in Alex Alice’ zweitem Teil seiner epischen Nibelungen-Interpretation. Was Mime und Siegfried angeht, erfährt der Leser nicht viel Neues, ihre Reise scheint nur dazu zu dienen, sie für das große Finale in Position zu bringen. Etwas anders verhält es sich mit Odin und der Walküre, Gestalten, die in diesem Teil etwas facettenreicher werden und durch die das Publikum erfährt, weshalb es so wichtig ist, dass Siefried nichts von der Existenz von Göttern weiß.
Interessant ist am Album, dass es gerade mal einer Handvoll Figuren zurecht kommt, von denen Siegfried, Mime, sie Seherin Völva und die die – bei Alice bisher noch namenlose – Walküre die präsentesten sind. Trotzdem wird dieser zweite Teil einer Trilogie an keiner Stelle langweilig. Das liegt weniger an Alice’ Fähigkeiten als Texter (die sind stellenweise wirklich gut, stellenweise aber auch nur gerade mal ausreichend), sondern an seiner Fähigkeit, mit wenigen Pinselstrichen und durch den gekonnten Einsatz von Farben Atmosphäre zu schaffen.
Der Band wird von einer kleinen Sequenz eingeleitet, die der Autor “Overtüre” nennt und die stellvertretend für Alex Alice Talent genannt werden kann, visuell bestechende Momente in statischen Bildern einzufangen: Odin steht in der Morgendämmerung auf einem hohen Felsen und ringt damit, die Nacht weichen und den neuen Tag beginnen zu lassen, da er auf die Heimkehr seiner verlorenen Tochter wartet. Als er einsieht, dass sie gefallen ist, dass sie nicht rechtzeitig zurückkehren wird, lässt er der Zeit ihren Lauf und in beeindruckenden Panoramabildern siegt das Licht über die Dunkelheit. Solche Szenen, Alice’ Spiel mit Farben, mit Schatten, mit beeindruckenden Landschaften, trösten über die Tatsache hinweg, dass das eine oder andere Bild fahrig wirkt, skizziert, nicht so perfekt, wie es offensichtlich sein könnte.
Was wiederum rundum gelungen ist, ist die edle Aufmachung als hochwertiges, übergroßes Hardcover, mit der der Splitter-Verlag sein Publikum nachhaltig zu beeindrucken versteht. Auch das trägt dazu bei, die “Die Walküre” zu einer kleinen Comic-Perle zu machen …
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