Terry Pratchetts kleine Hexe ist zurück. In “Das Mitternachtskleid” erlebt Tiffany Weh ihr bereits viertes Abenteuer. Nach einem Abstecher ins Feenreich (in “Kleine Freie Männer“), mächtig Ärger mit einem Wesen aus den Tiefen der Zeit (in “Ein Hut voller Sterne“) und einer ungewollten Romanze mit einer echten Wintergottheit (in “Der Winterschmied“) geht sie es diesmal zunächst recht ruhig an:
Inzwischen hat Tiffany ihre Lehrzeit offiziell beendet und arbeitet als erste und einzige Hexe im Kreideland. Das bedeutet aber nicht etwa das Rezitieren magischer Sprüche, wie sie schnell feststellt, sondern vor allem das Pflegen der Alten und Kranken. Weil es sonst niemand machen will behandelt Tiffany entzündete Wunden und schneidet verwachsene Zehennägel. Einer ihrer Patienten ist Rolands Vater, der Baron des Landes. Als dieser trotz ihrer Führsorge stirbt, ist nicht nur dummerweise Roland – samt schrecklicher Verlobter und Schwiegermutter in spe – in Ankh Morpork. Nein, man schiebt Tiffany auch noch die Schuld in die Schuhe! Kurz entschlossen macht sie sich deshalb auf ihrem Besen auf, Roland zu finden, die Kleinen Freien Männer im Schlepptau …
Wie gut ist der neue Pratchett?
Da Terry Pratchett an einer Form der Altzheimer Krankheit leidet, war ich wie andere Leser der Scheibenwelt-Romane natürlich gespannt, wie gut “Das Mitternachtskleid” sein würde – zumal die Hexen-Romane inklusive der bisherigen Tiffany Weh-Romane mit großem Abstand meine liebsten Scheibenwelt-Romane sind. Dennoch versuche ich, so fair zu bleiben, den bedauerlichen Krankheitszustand des Autors weitgehend beiseite zu lassen und “Das Mitternachtskleid” schlicht aufgrund seiner Qualität zu beurteilen. Und unter dieser Maßgabe muss ich vorausschicken, dass der vierte Tiffany Weh-Band leider deutlich hinter seinen Vorgängern zurück bleibt.
Natürlich ist es schön, der pfiffigen Junghexe erneut zu begegnen. Aufgrund ihrer Stellung als Hexe erscheint sie im “Mitternachtskleid” übrigens wesentlich erwachsener. Die Handlung jedoch selbst wirkt leider wenig stringent, etwas zerfasert und – leider – nicht wirklich frisch. Tiffany bekommt es mit einer Art Hass-Dämon zu tun, der Misstrauen gegen sie sät. Das erinnert stark an den Schwärmer aus “Ein Hut voller Sterne” und irgendwie hat man das Gefühl, die Geschichte sei nur ein neuer Aufguss von Altbekanntem, manchmal mit etwas zu viel Pathos. Der Ausflug in die Stadt währt zudem nur kurz und erweist sich als recht belanglos.
Eine Polonaise von Scheibenwelt-Figuren
Der Eindruck, dass ein konsequenter Spannungsbogen fehlt, wird dadurch verstärkt, dass zahllose Figuren aus vorangegangenen Büchern noch einmal ihr Stelldichein geben, und sei es auch nur in einem kleinen Cameo-Auftritt: Die Rede ist u. a. vom Tod, von Nanny Ogg und Oma Wetterwachs, Margrat und König Verence, Feldwebelin Angua, die Kelda der Kleinen Freien Männer und schließlich sogar Eskarina Schmied (aus “Das Erbe des Zauberers”). Das ist zu viel des Guten. Ein paar weniger Figuren mehr, und diesen dann etwas mehr Zeit gewidmet, wäre sicher besser gewesen. Zumal Tiffany im Verlauf des Romans selbst an ganz unerwarteter Stelle einen Hexenlehrling findet. In gewisser Weise wirkt der Roman wie ein „Überleitungs-Roman“ zu einem weiteren Tiffany Weh-Buch, denn es legt gerade durch letztgenannte Tatsache, dass Tiff von der Schülerin selbst zur Lehrerin wird, ein Fundament für eine ganz neue Geschichte. Ob Pratchett jedoch jemals dazu kommen wird, diese zu schreiben, bleibt ungewiss.
Toller Sprecher, richtige Länge
Soviel zur Kritik: Positiv zu vermelden ist, dass “Das Mitternachtskleid” dennoch seine Highlights hat. Hier und da blitzt Pratchetts Humor durch, einige Szenen sind wirklich spannend und atmosphärisch und – wie bereits erwähnt – es ist einfach schön, Tiffany Weh wieder zu begegnen. Zumal sie schließlich, der Titel deutet es an, den Wandel zu einer echten, selbstständigen Hexe vollzieht und sich symbolisch in Mitternacht hüllt: traditionell die Farbe, in die sich eine alte Hexe kleidet. Auch an Boris Aljinovics Lesung ist nichts auszusetzen. Mehr noch als Pratchett selbst findet er sich wieder in die Geschichte um die kleine Hexe der Scheibenwelt hinein und interpretiert gekonnt und mit viel Gefühl das etwas zähe Abenteuer.
Nachdem ich übrigens zunächst enttäuscht war, dass “Das Mitternachtskleid” nur vier (also keine fünf) Audio-CDs umfassen wird, muss ich sagen, dass die Kürzung der Geschichte sogar gut tut, denn so zieht sie sich nicht noch mehr in die Länge.
Fazit
Insgesamt darf man sagen, dass “Das Mitternachtskleid” eindeutig ein Scheibenwelt-Abenteuer für Tiffany Weh-Fans ist. Wer Oma Wetterwachs’ Protege liebt, kommt an dem (Hör-)Buch ohnehin nicht vorbei. Wer sie noch nicht kennt, sollte besser zu “Ein Hut voller Sterne” greifen.
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