“Entweder du fährst. Oder ich erzähle der Polizei, du hättest mich geschlagen. Ich werde blaue Flecken haben und mir die Augen aus dem Kopf heulen. Und ich garantiere dir, die werden mir glauben. Ich bin nämlich der hilflose alte Krüppel – und du bist die Verrückte mit der Wodkafahne am Steuer.”
Mo, Ich-Erzählerin von Liebten wir, Nina Blazons erstem Belletristik-Roman für Erwachsene, ist gleichsam geschockt als auch empört, als ihr das die gebrechlich wirkende Großmutter ihres Freundes wild entschlossen entgegen faucht. Es ist nicht die erste unliebsame Überraschung des Nachmittags. Die Geburtstagsfeier, auf der sie endlich die Familie ihres Freundes Leon kennen lernen durfte, hat sich als Katastrophe entpuppt und sie hat erfahren, dass Leon sie betrogen hat. Als sie Hals über Kopf mit seinem Auto flieht, nimmt sie deshalb zähneknirschend in Kauf, dass sich die altersschwache Aino bereits im Auto verschanzt hat.
Und jetzt fordert die mürrische Alte von Mo, dass sie durch die halbe Republik zur Meeresküste bringt. Aino will fort von ihrer Familie, die in ihr nur die unliebsame Kostenposition sieht. Und in Mo sieht sie ihr Ticket zur Freiheit. Die hat selbst ziemlich viel Mist gebaut und ihre eigenen Gründe, für ihre Weile aus dem eigenen Leben abzutauchen. Deshalb wehrt sie sich nicht allzu lange gegen die dreisten Erpressungsversuche von Aino, einer Frau, die bei weitem nicht so gebrechlich ist wie Mo zunächst denkt, und die einen eisernen Willen hat. Und so beginnt für die beiden spröden Frauen ein schräger Road-Trip, der sie nach Finnland, Ainos Geburtsland führt. Ihre Reise wird zu einer Spurensuche in die Vergangenheit, sowohl in die von Aino als auch in die von Mo. Eine Suche, die alte Wunden wieder aufreisst, neue Träume erblühen lässt und viele Geheimnisse aufdeckt – schreckliche und schöne.
Mo – eigentlich Moira – und Aino – im Mittelpunkt von Liebten wir stehen zwei ungewöhnliche Figuren: spröde und bissig, verschlossen und verzweifelt: keine strahlenden Heldinnen. Wer glaubt, die beiden würden sich als Protagonistinnen einer spritzigen Komödie entpuppen, ist auf dem Holzweg. Es dauert, bis die beiden Vertrauen zueinander fassen und aufhören, sich gegenseitig mit scharfen Worten zu verletzen. Mo und Aino sind nicht das Traum-Duo einer flotten Komödie, sondern unwillige Schicksalsgefährtinnen, die sich gegenseitig ebenso viel vorspielen wie sich selbst.
Und trotzdem habe ich mich mit Moira beim Lesen gleich sehr nah gefühlt. Das liegt vielleicht vor allem an ihrer verletzlichen Seite, ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit und einer Familie, die ihr Denken und Handeln beherrscht. Moira hatte kein leichtes Leben. Ihre Mutter ist in einem See ertrunken, als Mo sieben war. Oder war es Selbstmord? Zu ihrem Vater hat sie den Kontakt abgebrochen, ebenso wie zu ihrer einstigen Ziehmutter. Neben ihrer beruflich erfolgreichen, wunderschönen Schwester Danae kommt sie sich selbst vor wie eine graue Maus. In ihrer gemeinsamen Vergangenheit sind Dinge vorgefallen, die die Schwestern entfremdet haben – was, das erfährt man erst nach und nach. Mo ist Fotografin, sie erlebt die Welt durch Blicke durch ihr Objekiv, die ihr mehr Wahrheiten über die Menschen verraten als jedes Gespräch.
Versteckte Gesten, verstohlene Blicke – das alles, im richtigen Moment eingefangen, macht die Kamera gnadenlos sichtbar. So gebrochen Mo als Charakter zunächst erscheint, so faszinierend ist sie auch. Man folgt ihr gern auf ihrer Reise und will unbedingt erfahren, was in ihrer Kindheit wirklich geschah: Ist ihre Mutter wirklich bei einem Autounfall ertrunken? Warum ist ihr Verhältnis zu ihrer Schwester so unterkühlt? Was befindet sich in dem Schuhkarton, den ihr ihre verstorbene Ziehmutter nach ihrem Tod hat zukommen lassen und den sie sich nicht zu öffnen traut?
Der dritte Hauptcharakter des Buches ist Helsinki. Einen Großteil des Romans bewegen sich Mo und Aino durch diese Stadt, ihre Straßenzüge, U-Bahn-Stationen, in denen die Menschen plötzlich den “finnischen Tango” tanzen, den Museen, Musik-Clubs und dem Hafen. Gemeinsam mit Mo lernt entdeckt man die Stadt und ein Teil der finnischen Kultur und Lebensart, die – durch die Augen von Mo und Nina Blazon betrachtet – eine Art kühle Schönheit besitzt und sowohl distanziert, als auch melancholisch oder herzlich sein kann.
Und das gilt nicht nur für Finnland, sondern auch für Liebten wir selbst. Der Roman ist keine seichte Sommerlektüre, sondern ein Buch mit scharfen Ecken und Kanten, Momentaufnahmen, die ebenso schonungslos fotografiert werden wie die Bilder von Mo, die sie von ihren Kunden schießt. Und die nach und nach Behauptungen als Lügen enttarnen, die Mo und Aino sich selbst und anderen erzählen. Die Suche nach dem, was wirklich geschehen ist – während des Zweiten Weltkriegs in Finnland, Ainos Geschichte, ebenso wie während Mos und Danaes Kindheit in Deutschland, Mos Geschichte – war es, das mich an Liebten wir am meisten gepackt hat.
Erst ganz um Schluss fügen sich die Puzzleteile zusammen und rücken – ebenfalls schonungslos – alles ins rechte Licht. Viele Fragen stellt man sich während des Lesens von Liebten wir, Antworten bleibt dem Leser Nina Blazon zum Schluss keine schuldig. Und trotz aller Melancholie und Schwere gelingt es ihr, den Leser zum Schluss zufrieden zurück zu lassen – denn das Ende einer Reise ist nicht automatisch das Ende eines Weges.
“Liebten wir” erscheint am kommenden Freitag. Ihr seid auf das Buch neugierig geworden?