Niedersachsen, im Winter um 1880:
Der Glashüttenbesitzer Johann von Rapp kehrt von der Beerdigung seiner adeligen Schwiegermutter ohne die erhoffte Gelderbschaft zurück. Die Geschäfte laufen schlecht, Weihnachten steht vor der Tür. Johann weiß nicht, wie er seine schwer schuftenden Angestellten bezahlen soll. Mit im Gepäck führt er lediglich einen großen, alten Spiegel, in dessen dunklem Holzrahmen glitzernde Edelsteine eingelassen sind. Er ist das letzte Vermächtnis der Toten an ihre Tochter Blanka die aufgrund ihrer Angst vor freien Flächen ihren Gatten nicht begleitet hat.
Obwohl Blanka über Jahre keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter hatte, fasziniert sie der Spiegel auf eine mysteriöse Weise und lässt vergessen geglaubte Erinnerungen und Ängste wieder lebendig werden. Sie nimmt kaum wahr, dass Johann noch einmal das Anwesen verlässt, um in der Stadt bei den Banken um einen weiteren Kredit zu bitten. Doch ehe er zurückkehren kann, bricht ein Wintersturm über dem Herrenhaus herein. Er schneidet das Grundstück von der Außenwelt ab. Plötzlich sieht sich Blanka von allen Seiten mit Problemen konfrontiert. Die Arbeiter fordern ihren Lohn, in der Glashütte droht es zu einer Katastrophe zu kommen und ihre Tochter Johanna wird krank und in rasender Geschwindigkeit schwächer und schwächer. Die einzige, die ihr zur Seite steht, ist die beherzte Gouvernante Sophie. Doch auch diese kann nicht verhindern, dass Blanka sich immer mehr in eine Scheinwelt flüchtet. Und die Dunkelheit, die sich von allen Seiten über sie legt, droht sie zu ersticken.
Mit Winterkind (Dryas Verlag) gelingt Lilach Mer (Der siebte Schwan) eine kleine, aber stimmungsvolle Geschichte. Es sind gerade mal 279 Seiten, die mit ihrer düsteren, drückenden Atmosphäre eine fast hypnotische Wirkung auf den Leser ausübt.
Der Roman spielt nur an drei Tagen und ist eher Sittenbild des 19. Jahrhunderts als klassische Erzählung. Trotzdem ist das Buch so spannend, dass man es nur schwer aus der Hand legen kann. Welches Geheimnis hütet Blanka? Was hat es mit dem Spiegel auf sich und warum wollte sie ihre Mutter selbst auf dem Totenbett nicht mehr besuchen? Gekonnt spielt Lilach Mer mit Bildern des Schneewittchen-Märchens – Spiegel, Kämme, Gürtel, Äpfel – ohne dieses wirklich anzusprechen oder gar zu adaptieren.
Die Hauptfigur Blanka überzeugt zudem in ihrer Doppelrolle als Königin und als Schneewittchen selbst. Sie hat Angst vor dem freien Himmel, ist abhängig von einer Medizin, der man eine beruhigende Wirkung nachsagt und die sie offensichtlich ohne Gespür für das richtige Maß zu sich nimmt. Hässliche Flecken einer unbekannten Krankheit, die sich auf ihrem Handrücken gebildet haben, versteckt sie vor allen anderen hinter Handschuhen, die sie auch im Haus trägt. Nach dem Tod ihrer Mutter droht sich ihre eigene Vergangenheit zu wiederholen.
In Winterkind geht es um die Vergänglichkeit von Schönheit, die Rolle der Ehefrau in der damaligen Zeit und das manchmal schwierige Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern. Den Reiz des Romans macht nicht zuletzt die Winterstimmung aus, die auf jeder Seite deutlich spürbar ist: das andauernde Zwielicht und die auf dem Gemüt lastende Dunkelheit, die schneidende Kälte, die erdrückende Schwere frisch gefallenen Schnees, die Hitze und der Schweiß in der Glashütte und die klaustrophobe Stimmung im Herrenhaus – all das erweckt die Autorin scheinbar mühelos zum Leben und schafft so ein beunruhigendes, gekonnt inszeniertes Märchen.
Winterkind ist kein klassischer Fairytale-Roman, aber ungemein fesselnd!