Gerade ist bei Penhaligon mit Der Erbe der Schatten das große Finale von Robin Hobbs Bestseller-Trilogie Die Chronik der Weitseher erschienen.
Bereits seit seiner US-Erstveröffentlichung 1995 begeistert die Saga um den königlichen Bastard Fitz, der zum Assassinen und Spion ausgebildet wird, weltweit die Leser.
Dank der freundlichen Unterstützung durch Penhaligon konnten meine Kollegin Kat und ich ein ausführliches Skype-Interview mit der Bestsellerautorin führen: über die Weitseher-Saga, das Schreiben an sich und was sich für sie als Autorin in den letzten 25 Jahren verändert hat.
Interview mit Robin Hobb
Die Gabe der Könige wurde vor über zwanzig Jahren erstveröffentlicht und findet noch immer beständig neue begeisterte Leser. Dabei leben wir in einer Zeit, in der viele frisch erschienene Romane begeistert aufgenommen werden, bald aber in Vergessenheit geraten. Was macht deinen Serienauftakt so anders?
Ich wünschte, das könnte ich so einfach beantworten. Es ist seit dem Erstdruck durchgehend erhältlich, war nie vergriffen. Wenn ich wüsste, woran das liegt, wäre ich wohl mit einem der größten Geheimnisse der Literatur vertraut.
Es ist die Frage, die sich alle Autoren stellen: Warum ist ausgerechnet dieses meiner Bücher immer noch erhältlich, während nach jenem kein Hahn mehr kräht. Vielleicht liegt es daran, dass die Leser Fitz sehr ansprechend und charismatisch finden. Und zum Teil liegt es sicher daran, dass sie die Geschichte selbst mögen.
Ich könnte mir vorstellen, dass es an der Kombination einer sehr starken Erzählstimme und einer Figur liegt, mit der man sich identifzieren kann. Wenn man dieser Formel dann noch die Welt hinzufügt, die du geschaffen hast – die verschiedenen Bestandteile funktionieren in Beziehung zueinander einfach unglaublich gut.
Oh, vielen Dank! Die Romane sind in der Ich-Perspektive geschrieben, und ich glaube, das ist die natürliche Stimme des Geschichtenerzählens. Das ist die Art, wie wir uns gegenseitig erzählen, was uns widerfahren ist. Wenn wir auf Arbeit sind, Einkaufen gehen oder unsere Kinder von der Schule abholen – die Ich-Perspektive spricht uns einfach an. Auf die gleiche Art und Weise zieht sie Leser direkt in Geschichten hinein – es ist, als ob man das Tagebuch von jemandem liest oder seinen Blog. Man hat das Gefühl, man bekommt Einblick in seine Gedankenwelt, sein Innenleben.
Ich glaube, dass es für jeden Roman eine richtige und eine falsche Zeit dafür gibt, wann ein individueller Leser ihn für sich entdecken kann.
Das ist absolut wahr. Ein Leser bringt so viele eigene Erfahrungen mit ins Buch, so dass jeder von uns im Grunde genommen ein anderes Buch liest. Ich habe den Herrn der Ringe im genau richtigen Alter für mich gelesen und er hat mich nie wieder losgelassen. Ich kann ihn wieder und wieder lesen. Aber ich spreche sehr oft mit Leuten, die mir gestehen, dass sie es mit dem Buch versucht haben, aber einfach nicht rein gekommen sind.
Allerdings glaube ich auch, dass unser Geschmack, was die Stimme eines Autors angeht, sich verändert. Als ich das erste Mal versuchte, Robinson Crusoe zu lesen, hatte ich meine Schwierigkeiten, weil sich der Stil so altmodisch liest. Und dann ging es mir wie dir: Ich habe es Jahre später noch einmal probiert und mir gesagt, das war eben die Sprache und der Stil, der damals verwendet wurde. Und das hat mein Leseerlebnis so sehr bereichert!
Erinnerst du dich noch daran, welche Idee die Initialzündung zu Fitz‘ Welt gab?
Ja, denn zu diesem Zeitpunkt steckte ich eigentlich mitten in einem anderen Projekt.
Vermutlich kennt jeder Autor diesen Punkt beim Schreiben eines Romans, an dem das Schreiben schwer fällt. Dann findet man plötzlich andere Ideen spannend, und man denkt, dass diese Ideen mehr Spaß machen, oder eine bessere Geschichte hergeben würden. Das ist der Punkt, an dem man sagen muss: Ich höre jetzt nicht auf, sondern ich beende das, woran ich gerade schreibe. Als ich mit dem Schreiben anfing, war das eine der schwersten Lektionen für mich. Jedenfalls saß ich eines Abends an meinem Schreibtisch und dachte über Magie nach. Gleichzeitig kam mir der Gedanke an Drogensucht, denn wir hatten und haben ein großes Problem mit Drogensucht im Staat Washington. Und ich dachte mir, was würde passieren, wenn Magie abhängig machen würde? Und was wäre, wenn diese Abhängigkeit absolut zerstörerisch wäre? Was, wenn dir bewusst wäre, dass die Magie, wenn du dich ihr hingibst, irgendwann deine Gesundheit und möglicherweise deinen Verstand zerstören würde? Würdest du die Magie immer noch anwenden? Was wäre der Grund, die Motivation, die dich dazu treiben würde, zu sagen: die Magie anzuwenden ist so wichtig für mich, dass ich es tun werde, obwohl ich weiß dass ich mich damit vermutlich schwer verletzen werde.
Also schrieb ich diese Idee – mit sehr viel weniger Worten – auf ein Stück Papier, das ich von einem Umschlag abgerissen hatte. Weil ich damals noch nicht am Computer schrieb, konnte ich die Idee nicht in einem anderen Dokument speichern, also legte ich meine handgeschriebene Notiz in eine Schublade für später. Dort blieb sie dann für mehrere Jahre. Ich schrieb Geschichten, erledigte andere Arbeit, und manchmal nahm ich meine Zettel mit Ideen aus der Schublade. Ich schaute sie mir durch, ordnete sie, und fragte mich: gibt es eine Verbindung zwischen ihnen? Kann mit diesen Ideen irgendetwas passieren? So versucht man, einen Funken zu schlagen.
Irgendwann kam mir dann noch der Gedanke, dass wir diese ganzen Motive und Klischees in der Fantasy lieben, weil sie zu uns sprechen. Und dann lesen wir ein Buch und stellen fest, ach, das hab ich doch schon mal gelesen. Da haben wir den weisen alten Zauberer, der als Eremit lebt, und wir haben den ernsten jungen Mann. Wir haben die weise Frau in den Wäldern, und die schöne junge Dame, die mit einer Vision daher kommt. All diese Puzzleteilchen, und ich dachte mir, was wäre, wenn ich versuchen würde, den Staub von diesen Klischees zu klopfen und sie mit einer Geschichte über süchtig machende Magie kombiniere? Und daraus wurde dann Die Gabe der Könige.
Fühlt es sich überhaupt so an, als wären seitdem 22 Jahre vergangen?
Für mich sind das ja eher 25 Jahre, weil ich in etwa ein Jahr brauche, um ein Buch zu schreiben. Und damals brauchte ich für die Überarbeitung noch ein weiteres Jahr. Ich habe also vor ungefähr 25 Jahren damit angefangen, Zeit mit Fitz und dem Narren zu verbringen. Die Widmung im neuen Buch richtet sich an die beiden. Tatsächlich sind sie meine ältesten Freunde – die Personen oder Figuren mit denen ich in den letzten 25 Jahren vermutlich mehr Zeit verbracht habe, als mit irgendetwas anderem in meinem Leben.
Gab es Figuren in deinen Büchern, die dich überrascht haben – die vielleicht wichtiger geworden sind, als geplant, oder weniger wichtig?
Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir viel mehr von Veritas zu sehen bekommen würden. Weil er ja derjenige ist, der durch seinen Umgang mit der Magie am meisten beansprucht wird. Und ich habe auch nicht ganz damit gerechnet, dass Merle die Rolle haben würde, die sie letztendlich bekam.
Aber es war definitiv der Narr, der die Bühne betrat und nicht wieder gehen wollte. Er formte viele Handlungsstränge, viel mehr, als ich gedacht hatte.
Ich finde es spannend, wie Fitz es schafft, die Gabe und die Alte Macht zu verbinden. Ich hatte den Eindruck, dass sein Zugriff auf die Macht ihm dabei half, dem Ruf der Gabe zu widerstehen. Was mich interessieren würde: Entwickelte sich das Konzept der Alten Macht zur gleichen Zeit, wie die Gabe, oder kam das später?
Ich wusste von Anfang an, dass er [Fitz] eine andere magische Fähigkeit haben würde, und dass andere diese Magie verabscheuen würden. Dass es eine Fähigkeit sein würde, die er verbergen musste und dass andere Menschen auf ihn herabschauen würden, wenn sie wüssten, dass er diese Fähigkeit besaß und sie nutzte.
In vieler Hinsicht war die Macht für Fitz noch viel eher eine Obsession, als die Gabe. Er konnte sich davon abhalten, die Gabe zu benutzen – und das tat er auch. Aber die Macht und seine Verschwisterung mit den Hunden und seinem Wolf war ein machtvoller Aspekt in seinem Leben, von dem er sich nicht distanzieren konnte. Er brauchte diese Art der Gemeinschaft.
Wieviel wusstest du über Fitz, als du angefangen hast, über Ihn zu schreiben?
Auf jeden Fall wachsen und verändern sich meine Figuren. Wenn sie das nicht täten, dann wären die Bücher nicht mehr als ein Zirkel, in dem sich alles wiederholt. Wenn deine Figuren am Ende des Buches noch exakt die Gleichen sind, wie am Anfang, warum dann überhaupt die Geschichte schreiben? Das Leben ändert uns alle.
Als Fitz älter wurde, hat er oft zurückgeschaut und über die Entscheidungen, die er getroffen hat, nachgedacht – über die Dinge, die ihm absolut normal und richtig vorkamen, als er jünger war. Er konnte auf diese Entscheidungen zurückblicken und sagen, was ich damals gemacht habe, war wirklich dumm. Wie anders wäre die Welt in diesem Moment, wenn ich mich damals für einen Monat länger zusammengerissen hätte. Oder wenn ich an einem bestimmten Punkt einfach nicht reagiert hätte.
Ist das generell die Art, wie du dich einem neuen Buch annäherst? Denkst du über die Figuren nach, oder entstehen die Figuren durch den Plot?
In meinem Fall entstehen die Figuren immer lange vor dem Plot. Ich kenne die Figur, über die ich schreiben will, und das meiste der Geschichte und des Plots ordnet sich dann um diese Figur herum. Die Idee zu der abhängig machenden Magie war ein wichtiger Grundstein für die Geschichte, aber wo ich mit Fitz hinwollte, das war noch mal eine ganz andere Frage.
Für mich fangen Geschichten immer mit den Charakteren an. Und es muss ein Charakter sein, den ich interessant genug finde um ihm oder ihr ein Jahr lang durch die Windungen der Geschichte zu folgen. In der Regel habe ich eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie sich das Buch entwickeln und was das Ende sein wird. Aber wenn ich einem Charakter folge, dann ist es nicht immer so, dass sein Weg schnurgerade vom Anfang bis zum Ende verläuft.
Es kann sein, dass der Weg sich hierhin und dahin schlängelt, und manchmal verrenne ich mich auch. Dann beschließe ich zum Beispiel, dass ich die letzten 20 Seiten streichen und zu einem früheren Punkt in der Geschichte zurückkehren muss – besonders, wenn ich das Gefühl habe, dass wir dem Ende nicht näher kommen.
Arbeitest du viel mit ersten oder zweiten Entwürfen? Wieviel Raum nehmen Überarbeitungen in deinem Schreibprozess ein?
Ich schreibe sehr linear, schreibe vom Anfang zum Ende der Geschichte. Aber wenn ich mit irgendeinem Punkt in der Geschichte zu kämpfen habe, dann sage ich mir oft: okay, ich muss darüber nachdenken, wo ich hin will, und dann auch erstmal stückweit zurück in der Geschichte gehen. Vielleicht nur ein paar Seiten, oder ich gehe zurück zum Anfang des Kapitels.
Wenn ich mich dann an die erste von vielen Überarbeitungen dieses Kapitels setze, prüfe ich den Text erst mal auf Grammatik und Rechtschreibung, und frage mich gleichzeitig, ob ich diesen oder jenen Ort noch ein bisschen mehr beschreiben sollte. Ich feile an den Dialogen. Und meistens finde ich dann die Stelle, an der die Geschichte sich einfach nicht richtig anfühlt, wo die Erzählung eine schräge Richtung eingeschlagen hat, und das ist dann die Stelle, an der ich anfange, das Kapitel umzuschreiben. Wenn ich dann am Ende des Buches ankomme, habe ich die einzelnen Kapitel zwei, fünf, sieben oder zwölf Mal überarbeitet.
Manchmal stecke ich mitten in einem Buch und mir fällt ein, dass irgendetwas Bestimmtes in einem früheren Kapitel passieren muss. Wenn zum Beispiel in Kapitel 12 ein Pferd lahmt und das dann die Handlung beeinflusst, dann sollte ich irgendwo vorher im Buch erwähnen, dass es da einen Straßenabschnitt gibt mit spitzen Steinen oder sowas ähnliches. Damit es nicht so aussieht als hätte ich mit einem Zauberstab gewedelt und das Pferd wäre plötzlich verletzt.
Man kann es so einrichten, dass der Leser sich denkt: Aha! Ich wette, ich weiß wann das passiert ist. Also mache ich mir kurze Notizen mit Eselsbrücken wie ‚vor Kapitel 12, hinzufügen dass es in der Straße spitze Steine gibt‘. Oder, ihr wisst schon, sowas wie ‚diese Person ist allergisch gegen Lavendel‘. Oder alles andere, das ich brauche, um auf spätere Ereignisse vorauszudeuten.
Wenn ich dann das Ende des Buches erreiche, gehe ich zurück und füge während der Überarbeitung all diese kleinen Details und Hinweise ein.
Hat sich dein Schreibprozess über die Jahre sehr verändert?
Bestimmt, aber ich könnte jetzt nicht den Finger darauf legen, weil die Veränderungen sich nach und nach einstellen.
Man kann das vielleicht damit vergleichen: Kochst du dir heute immer noch das gleiche Essen, wie mit zwanzig? Du machst dir wahrscheinlich immer noch Sandwiches, aber vielleicht benutzt du eine andere Brotsorte, oder du stellst fest, dass du Mayonnaise doch nicht so lecker findest. Oder du findest irgendwann, dass du weniger Butter benutzen solltest.
Es ist ein schleichender Prozess, und der Versuch, sich daran zu erinnern, wie man bestimmte Dinge mit zwanzig, dreißig, vierzig, oder fünfzig gemacht hat… . Ich bin jetzt 65, also liegen da schon einige Schreibjahre hinter mir.
Wenn wir uns mal dem Buchgeschäft an sich zuwenden, denkst du eigentlich über Genre nach, wenn du mit einem neuen Buch anfängst? Denkst du, das Fantasay Genre und seine Zutaten haben sich sehr verändert in den letzten zwanzig, dreißig Jahren?
Oh ja doch, bestimmt hat sich da was verändert. Aber bei den ganzen Büchern die ich lese, habe ich trotzdem nicht das Gefühl, dass sich die grundlegende Art, wie wir Geschichten erzählen, ganz radikal und überraschend verändert hat.
Ich denke, wenn wir über Themen sprechen, dann kann man sagen, dass wir in der Fantasy mittlerweile sehr viel freier und direkter über Sexualität schreiben können – also im Vergleich zu der Zeit, in der ich angefangen habe. Ich glaube, in mancher Hinsicht hat sich auch der Anteil an expliziter Gewalt erhöht.
Aber ehrlich gesagt, wenn’s ums Geschichtenerzählen an sich geht – das machen wir schon so, so lange. Könnten wir in der Zeit zurückreisen, und die gleiche Geschichte, die wir heute erzählen, auch an einem Lagerfeuer vor tausend Jahren erzählen? Ich glaube, wenn man mal die Nuancen der modernen Welt wie Autos oder Elektrizität raus nimmt, dann könnte man das. In Geschichten geht es hauptsächlich um Menschen und ich glaube, die haben sich nicht großartig verändert in der ganzen Zeit.
Manchmal frage ich mich, ob sich in unserer modernen Zeit zumindest unser Leseverhalten geändert hat. Ich habe den Eindruck, dass sich unsere Aufmerksamkeitsspanne verkürzt hat, weil sich unsere Welt so beschleunigt.
Menschen werden immer Geschichten erzählen, denke ich.
Wie bereits erwähnt: wenn man sein Kind von der Schule abholt, oder nach Feierabend eine Freundin trifft, erzählt man erstmal eine Geschichte darüber, wie der Tag war. Manchmal teilt sich unsere Aufmerksamkeit. Es ist ja nicht mehr ungewöhnlich, dass sich Leute im Restaurant gegenübersitzen und jeder schaut auf sein Handy. Vielleicht unterhalten sie sich übers Essen und darüber, was sie an dem Tag so gemacht haben, und gleichzeitig schauen sie aufs Handy.
Aber Geschichten werden uns immer begleiten, egal, ob wir sie in der Form eines Snapchats erzählen, oder ob wir kurze Kapitel einer Geschichte über Twitter lesen, und so mitbekommen, wie sich etwas entwickelt. Ich glaube, Geschichten werden immer da sein.
Was ich sehr interessant finde ist, dass Hörbücher immer beliebter werden. Leute hören sich im Auto auf dem Weg zur Arbeit Romane an und decken so ihren täglichen Bedarf an Geschichten. Vielleicht lesen wir nicht mehr so viel, aber ich glaube, die Leute erfüllen sich ihr Bedürfnis nach Geschichten auf andere Art.
Ich denke, dass Geschichten mit die beste Möglichkeit bieten, um herauszufinden, wer wir sind und in welchem Verhältnis wir zu anderen Menschen und zur Welt überhaupt stehen.
Außerdem ergibt die Welt in einer Geschichte Sinn. [In der wirklichen Welt] sehen wir zu, wie ein Unglück passiert, oder wie Menschen schlimme Dinge tun, und es scheint, als würden sie dafür belohnt. Wir müssen zusehen, wie ein Hurrikan über einen Landstrich hereinbricht und das Leben der Menschen dort in Stücke reißt.
In einer Geschichte können wir einen Sinn hinter solchen Ereignissen erkennen. Wir erzählen uns, warum Dinge passieren und wie Menschen mit einem Unglück umgehen, und Rückschläge überleben. Es geht beim Geschichtenerzählen und Lesen also viel darum, den ganzen, verrückten und zufälligen Ereignissen in unserem Leben eine Ordnung und einen Sinn zu geben.
Was treibt dich dazu an, Geschichten zu erzählen?
Nun, wie gesagt, zum Teil geht es darum, der Willkürlichkeit in unserem Leben eine Struktur zu geben. Aber für mich beginnt eine Geschichte fast immer mit einem Charakter und der Frage, ‚was wäre, wenn‘?
Was wäre, wenn Magie süchtig machen würde? Was, wenn deine Katze mit dir sprechen könnte? Ihr wisst schon, diese ganzen ‘was wäre, wenn’ Fragen, die du dir stellt, während du mit dem Auto zur Arbeit fährst oder wohin auch immer. Und du fragst dich, was wäre, wenn ich jetzt in einen winzigen Helikopter steigen und über allen davonfliegen könnte? Wie würde das mein Leben verändern?
Erst kürzlich habe ich während einer Autofahrt im Radio gehört, dass sie darüber diskutieren, Stadtbahnnetze in den USA aufzubauen. Aber die würden nicht vor 2023 fertig werden. Und manche Leuten fragen sich, wenn es dann soweit ist, wer wird dann überhaupt noch mit der Bahn fahren? Nutzen wir dann die Bahn überhaupt noch und macht es also Sinn, so ein Netz aus dem Boden zu stampfen? Oder wird es so sein, dass wir Fahrerlose Autos haben, oder arbeiten wir alle von zu Hause aus? Bauen wir also etwas, das von vorneherein überflüssig ist? Also sitzt du da und denkst, ‘was wäre, wenn’? Was kommt als nächstes? Ihr wisst schon, was passiert, wenn wir nicht alle in unseren eigen kleinen Autos im Stau stehen – was ein sehr amerikanischer Zeitvertreib ist. Was wäre, wenn wir stattdessen alle in Fahrerlosen Autos sitzen? Mit einem Computersystem, das die effizienteste Route durch den Verkehr ausrechnet, und dann das Auto in die entsprechende Richtung lenkt? Was würde dann passieren? Und was dann?
Jeden Tag stolpere ich über tausend Geschichten und über die nachzudenken, finde ich enorm unterhaltsam.
Gerade habe ich das letzte Buch der Saga beendet und ich liebe es. Das Setting ist faszinierend und die neuen Kulturen, die wir kennenlernen, wieder einmal komplex. Wann haben Sie sich das erste Mal mit Cleres befasst? Wusstest du schon zu Beginn deiner großen Saga, dass du diese Gegend einmal besuchen wolltest?
Nun. Zumindest hatte ich schon immer eine vage Idee davon, woher der Narr stammt. Dass es sich um einen sehr weit entfernten Ort handelt, dass er dort ausgebildet wurde und man ihn dort zunächst gut behandelt hat – und dann schlecht. Dass er mit diesem Ort sowohl sehr schöne als auch sehr schreckliche Erinnerungen besitzt.
Habe ich geglaubt, jemals den Leser dorthin mitzunehmen? Nein. Denn ich hatte keine Idee, dass man mir tatsächlich erlauben würde, achtzehn Romane, die alle im gleichen Universum spielen, schreiben zu dürfen. Das erschien mir zu Beginn nicht sehr wahrscheinlich. Zwar kannte ich bereits das eine oder andere Detail, aber ein komplexes Bild dieser Gegend bekam ich erst beim Schreiben der zweiten Trilogie um Fitz und den Narren. Damals überlegte ich mir, wo für den Narr alles anfing und wie sein Training aussah.
Darf man fragen, ob es wirklich das allerletzte Buch in diesem Universum sein wird?
Ich habe so oft behauptet, dieses oder jenes Buch sei das letzte, das in dieser Welt spielt. Und ich lag schon so oft falsch damit. Deshalb behaupte ich das nicht. (lacht).
Das verstehen ich. Hast du dann aktuell Pläne für ein anderes Buch, außerhalb des Weitseher-Universums?
Ich spiele gerade ein bisschen mit Urban Fantasy herum. Es wäre ein Megan Lindholm-Roman, kein Robin Hobb-Buch. Der Schreibstil ist anders und ich gehe auch anders an eine solche Geschichte heran. Ich bin da gerade sehr nachlässig. Ich mache mir keinen Druck und habe mir keine Deadline gesetzt. Ich beobachte eher, wie sich gerade alles fügt und wohin das Buch mich führen wird. Ich weiß noch nicht einmal, ob dabei etwas herauskommt, dass man veröffentlichen könnte. Immer, wenn ich mich mit einer neuen Figur in eine neue Welt wage, frage ich mich: Ist das etwas, was meinem Herausgeber gefallen würde? Würde es den Lesern gefallen?
Wenn ich richtig verstanden habe, zeigst du so dem Leser an, was sie von den jeweiligen Büchern erwarten können, weil sich die Theme und der Ton von Meghan Lindholm von denen von Robin Hobb unterscheiden. Empfindest du das als befreiend?
Ja, sehr befreiend sogar. Und nicht ungewöhnlich, vor allem nicht, wenn man in einem Genre schreibt. Einige von uns schreiben sowohl Romance-Bücher als auch historische Romane, Western und Fantasy und wir verwenden dann unterschiedliche Pseudonyme für jedes Genre. Man möchte einfach nicht, dass jemand, der ein Fantasy-Buch lesen will, zum neuen Roman greift und dann feststellt, dass es sich um einen Krimi oder Western handelt. Das würde manche Leser eher enttäuschen. Gerade Genre-Leser sind oft sehr fokussiert und wollen explizit nur Fantasy oder Krimis lesen. Der Autorenname funktioniert praktisch wie ein Signal, das anzeigt, ob der Inhalt passt oder nicht.
Erweist sich da Marketing nicht als Alptraum? Hat jedes Autoren-Alter Ego einen eigenen Facebook-Account?
Megan Lindholm hat ihre eigene Facebook-Seite und ihre eigene Website. Ein Alptraum ist das allerdings nicht, sondern nur eine andere Art und Weise, die Welt zu betrachten. Wir alle haben verschiedene Facetten. Man kann gleichzeitig Vater und Bruder sein, Cousin und Sohn, Ehemann und Arbeitnehmer. Je nachdem, in welcher Rolle man gerade ist, würde man über das, was man gerade tut, unterschiedliche Dinge schreiben. Wenn ich also gerade als Megan Lindholm schreibe, ist es wahrscheinlicher, dass ich darüber berichte, wie es meinen Hühnern geht oder welches Gemüse ich gerade anbaue. Robin Hobb denkt über andere Dinge nach, und schreibt auch über andere Dinge.
Hast du seltsame Angewohnheiten beim Schreiben?
Seltsame? Ich glaube, ich hatte nie die Gelegenheit, welche zu entwickeln.
Ich weiß, dass es Autoren gibt, die gern zu Musik schreiben, oder beim Arbeiten ein Glas Wein trinken, oder für die ein bestimmtes Licht oder eine parfümierte Kerze wichtig ist.
Aber ich … Ich habe als Teenager mit dem Schreiben begonnen. Und irgendwann war ich eine Mutter mit kleinen Kindern. Das bedeutete, ich musste dann Schreiben, wenn ich mir gerade die Zeit freischaufeln konnte. Ich konnte mir nicht vornehmen, mich dann-und-dann hinzusetzen und zwei Stunden zu schreiben. Das lief damals eher so: Also gut, ich sitze gerade hier im Auto und warte darauf, dass das Fußballtraining meiner Kinder zu Ende ist. Dann schlage ich doch jetzt mein Notizbuch auf und schreibe in dieser Zeit zwei bis drei Seiten. Ich schrieb auch auf dem Fußboden meines Badezimmers, wenn die Kleinen in der Wanne spielten. Und nachdem sie im Bett waren setzte ich mich an meinen Computer und tippte das Geschriebene ab – meist machte ich dann schon die ersten Überarbeitungen.
Meine seltsame Angewohnheit wäre deshalb vermutlich, dass ich überall schreiben kann. Bis zum heutigen Tage gehe ich nirgendwo hin, ohne einen Stift und ein Notizbuch dabei zu haben.
Sprechen wir über Schreibrituale und Schreibroutinen: Setzt du dir selbst Ziele?
Wenn man einen Vertrag hat, dann ist einem das Ziel bereits vorgegeben, weil darin festgehalten ist, dass man ein Manuskript zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig haben muss. Dann fange ich an, und lege Zieletappen fest: Wie viele Monate Zeit habe ich insgesamt und wie viel muss ich in jedem dieser Monate schaffen? Manchmal schreibt man dann zum Schluss wie ein Wahnsinniger, weil das Leben diesen Plan über den Haufen geworfen hat und man hinterherhinkt. Manchmal läuft es aber auch ganz gleichmäßig.
Ich glaube, am schwersten ist es, auch dann zu Schreiben, wenn man keine Deadline hat. Man tendiert dann dazu, eine Geschichte immer und immer wieder zu überarbeiten und Dinge darin zu verändern, und das Manuskript wächst und ufert aus. Deshalb ist meines Erachtens auch eine persönliche Deadline wichtig, wenn man professioneller Autor ist. Es ist der beste Weg, sich selbst dazu zu bringen, ein Manuskript auch zu Ende zu schreiben.
Das kann ich mir vorstellen. Ich selbst hasse Deadlines, andererseits weiß ich, dass sie mir helfen, mit einem Projekt fertig zu werden.
Meiner Meinung nach ist eine der größten Herausforderungen für einen angehenden Autor, Dinge zu Ende zu schreiben. Weil das eine große Sache ist. Man legt sich fest, wie eine Geschichte ausgeht. In meiner Vergangenheit gibt es sehr viele Geschichten mit einem Anfang und einem Mittelteil, aber keinem Ende, weil ich mir unsicher war, was das jeweils beste Ende für diese Geschichten sein sollte.
Irgendwann stellt man allerdings fest, dass man ein Ende schreiben kann, und wenn man es dann nicht mag, kann man es immer noch umschreiben. Man braucht es nicht zu behalten. Man stellt fest, dass es ggf. nicht so richtig passt und probiert etwas anderes aus.
In zurückliegenden Interviews haben wir öfter mit Autoren über das Thema “Innerer Kritiker” gesprochen und wie diese Dinge den Schreibprozess beeinflussen. Hast du Tipps für angehende Autoren, wie man mit Selbstzweifeln umgehen kann?
Ich glaube, in uns allen steckt ein interner Lektor und manchmal, wenn der richtig loslegt, muss man ihn auf Stumm schalten und die Geschichte, die man erzählen will, erstmal irgendwie zu Papier bringen. Man kann jederzeit Dinge darin überarbeiten. Man kann Fehler beheben, Änderungen vonehmen, wenn es Stellen gibt, die schlecht geschrieben sind. Aber schlecht zu schreiben ist der erste Schritt auf dem Weg um gut zu schreiben. Nur, was auf dem Papier steht, kann auch verbessert werden.
Zum Abschluss eine weniger ernste Frage: Wenn du drei fiktive Charaktere (eigene oder fremde) zum Tee oder Abendessen einladen dürftest: Für wen würdest Du Dich entscheiden?
Ach herrje! Wen würde ich einladen? Ich glaube, ich kenne meine eigenen Charaktere so gut, dass es nicht sonderlich erhellend für mich wäre, sie zum Tee einzuladen. Die ersten Figuren, die mir gerade einfallen, stammen aus dem Herrn der Ringe. Wen hätte ich da gern? Aragorn? Tom Bombadil? Im Buch gibt es mehrere Figuren, die wir gar nicht so gut kennenlernen. Es gibt immer solche Figuren, wie Merlin oder eben Tom Bombadil, von denen man nur flüchtige Eindrücke bekommt, weil die Geschichte dann weiterzieht.
Deshalb würde ich diese beiden einladen: Merlin und Tom Bombadil. Und sobald ich Merlin erwähne, frage ich mich, ob es nicht interessant wäre, auch mit Lancelot mal zu sprechen? Oder Artus? Oder Guinevere? Und dann fallen mir diese ganzen anderen Bücher und Figure nein, wie etwa Mowgli aus dem Dschungelbuch. Oder Bagheera!
Was für eine Frage! Ich könnte vermutlich einen Monat lang darüber nachdenken, und mich nur schwer entscheiden.
Vielen Dank!
Mehr über Robin Hobb und ihre Bücher erfahrt ihr bei Penhaligon und natürlich auf ihrer persönlichen Website.
Meine Rezension zu Band 1 der Trilogie: Die Gabe der Könige