Eigentlich hätte sein Leben ganz anders verlaufen sollen: Statt der geplanten Hollywood-Karriere hält sich der Regisseur Zach Wells inzwischen nach zahlreichen Drogenexzessen und –entzügen mit dem Filmen belanglose Familienfeste über Wasser. Aus dem einstigen Wunderkind ist ein Niemand geworden. Doch das Schicksal scheint bereit, ihm eine einmalige Chance zu bieten, als er ziemlich widerwillig für seinen besten Freund als Jurymitglied des jährlichen Filmfestivals an seiner einstigen Uni einspringt. Gleich in der ersten Nacht landet er mit einem blutjungen Studenten im Bett – beide fühlen sich magisch voneinander angezogen, ohne sich dieses Gefühl erklären zu können.
Der Schreck am nächsten Morgen ist groß, als Zach feststellt, dass sein One Night Stand einer der Studenten ist, dessen Kurzfilm er für das Festival bewerten soll. Mehr noch: Der Junge behauptet, Danny Reyes zu sein, und sein Beitrag trüge den Titel „Judas Kiss“. Zach weiß, wie unmöglich das ist. Denn Danny Reyes ist der Name, mit dem er selbst geboren wurde, und „Judas Kiss“ ist ein hochbrisanter Kurzfilm, mit dem er selbst vor fünfzehn Jahren das jährliche Filmfestival seiner Uni gewonnen hat. Ist seine Rückkehr an den Campus im wahrsten Sinne des Wortes eine Reise in die eigene Vergangenheit? Und wenn ja, was muss er tun, um zu verhindern, dass aus Danny Reyes der Mensch wird, der Zach Wells heute ist?
Das „Queer Cinema“ tut sich oft schwer damit, Filme zu produzieren, die nicht nur durch attraktive Hauptdarsteller, sondern auch durch eine tolle Handlung bestechen und/oder über Coming Out-Geschichten hinausgehen. „Judas Kiss“ wirkt da wie eine Offenbarung. Der Film setzt zwar auch auf durchaus attraktive Darsteller, im Mittelpunkt steht jedoch keine Liebesgeschichte, sondern eine faszinierende Mischung aus Thriller, Drama und einem Schuss magischen Realismus. Als Zach Wells (gespielt von Charlie David, „Dante’s Cove“) an der Uni ankommt, weisen ein paar kurze Special Effects bereits darauf hin, dass fortan etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Was jedoch genau um ihn herum geschieht, bleibt zunächst unklar. Und selbst, als der Zuschauer zu ahnen beginnt, was los ist, gelingt es dem Film erstaunlich gut, unvorhersehbar zu bleiben. Es ist klar, dass sich Zachs und Dannys Leben ändern müssen; wie sie sich jedoch entscheiden, bleibt lange ungewiss. Ebenso ungewiss wie das Geheimnis, das den mysteriösen Filmfestival-Beitrag „Judas Kiss“ angeht, mit dem beide ins Rennen gegangen sind. Was hat es mit dem Kurzfilm auf sich? Die Lösung scheint am Ende etwas unspektakulär, wenn auch schockierend, aber das ist nicht weiter schlimm, weil die Gesamthandlung hierfür entschädigt.
Das Drehbuch ist nicht 100% perfekt: Einige Logiklöcher konnten leider nicht umschifft werden und die Entscheidung, den Film sowohl aus der Perspektive von Zach und Danny zu erzählen, macht „Judas Kiss“ etwas unruhig. Der Fokus auf eine der beiden Figuren hätte vermutlich besser funktioniert. Aber es ist schön, dass die Charaktere nicht zu glatt gebügelt sind. Danny selbst mit seiner promisken, egoistischen Art ist sicher kein Vorbild, aber dennoch ein glaubhaftes Portrait eines jungen Schwulen mit Ecken und Kanten. Seine innere Zerrissenheit und sein Hin und Her zwischen dem angesagten College-König Shane (verkörpert vom belgischen Sänger Timo Descamps) und dem schüchternen Filmstudenten Chris (talentiert gespielt von Eyecandy Sean Paul Lockhart) nehmen einen ordentlichen Teil der Handlung ein. Da ist es gut, dass die Produzenten mit Newcomer Richard Harmon einen Jungdarsteller gefunden haben, der die ambivalente Rolle überzeugend ausfüllt. Neben ihm wirkt Charlie David als Zach fast ein bisschen blass.
Nicht ganz so gut gelungen ist leider die deutsche Synchronisation des Films. Sie geht anfangs nicht Lippenkonform, was sehr irritierend wirkt. Mit der Zeit gewöhnt man sich an diesen Umstand. Wer Englisch spricht, für den empfiehlt es sich allerdings, gleich die Originaltonspur anzuwählen, da auch die Leistungen der Schauspieler durch eine wesentlich nuancenreichere Betonung und ohne die teilweise nur mittelprächtig gelungene Übersetzung wesentlich besser wirken. Ansonsten gibt’s auf der DVD als Bonusmaterial u. a. einen Blick hinter die Kulissen, einige geschnittene Szenen und das offizielle Musikvideo zu Timo Descamps’ „Like it Rough“.
Insgesamt ist „Judas Kiss“ durch seine für das Genre ungewöhnliche Story ein Highlight des neuen Queer Cinema, dem man allenfalls vorwerfen kann, dass zu viel darin geraucht wird. Tolle Kameraeinstellungen, schöne Bilder und eine faszinierende Geschichte machen den Film zu einem Independent-Streifen, der wirklich zu empfehlen ist – nicht nur für ein schwules Publikum!