Nora Bendzko und ihre Bücher habe ich erst vor Kurzem kennengelernt – über unsere Autorenkollegin Janna Ruth, übrigens. Schnell haben wir jedoch festgestellt, dass unsere Herzen für ähnliche Geschichten schlagen.
Nora liebt wie ich Märchenadaptionen, und wie ich mag sie diese zwischendurch auch mal düsterer. In ihrer Reihe Galgenmärchen, zeitlich angesiedelt während des 30jährigen Krieges, adaptiert sie unterschiedliche Grimm’sche Märchen. Zuletzt erschien die Novelle Bärenbrut, Noras Version des Märchens vom Bärenhäuter. Am nächsten Roman ihrer Reihe arbeitet sie bereit.
Sie hat sich viel Zeit dafür genommen, meine zahlreichen Fragen zu ihren Galgenmärchen und zum Schreiben an sich zu beantworten.
Viel Spaß mit dem Interview!
Interview mit Nora Bendzko
Welche Schlagworte und Farben beschreiben die Atmosphäre Deiner Galgenmärchen am besten? Halt: Schwarz schließe ich als mögliche Antwort mal gemeinerweise aus!
Rot wie Blut, golden wie Erinnerungen, blau wie tiefe Gewässer.
In keinem Fall Schwarz-Weiß.
Als Schlagworte würde ich außerdem wählen: dunkel, magisch, Abgründe, Träume.
Mehrere Geschichten sind in der Reihe bereits erschienen. Welches ist Dein liebster Nebencharakter und warum?
Nach einiger Überlegung würde ich sagen: Matyas, der Gärtner des Königs aus Kindsräuber. Ich denke, er ist eine meiner tragischsten Figuren überhaupt, wo er seine Frau und seine Tochter verloren hat und davon schwer gezeichnet ist.
Im Verlauf der Geschichte wird er zu einer wichtigen Schlüsselfigur, hilft, das Rätsel um die Kindesentführungen zu lösen, die das Prag von 1619 in Kindsräuber heimsuchen.
Ein wenig ist es auch seine eigene Erlösungsgeschichte, will er doch herausfinden, was hinter dem Mord an seiner Tochter steckt. Eine der für mich bewegendsten Szenen in Kindsräuber (die ich hier natürlich nicht spoilern kann) ist mit Matyas am Ende des Buches.
Warum hast Du beschlossen, Dich auf Grimm’sche Märchen zu konzentrieren und Andersen, Hauff & Co. außen vor zu lassen?
Das hat sich einfach so ergeben.
Die Inspiration für das erste Galgenmärchen Wolfssucht kam mir in der Oberstufe, als ich ein Seminar zum Thema Schwarze Romantik besuchte. Im Rahmen des Seminars lasen wir die Ur-Versionen Grimm’scher Märchen, die teils viel dunkler und blutiger waren als die Märchenversionen, die man so kennt. (Der Wolf in Rotkäppchen zum Beispiel steht ursprünglich für einen Vergewaltiger.)
Weil das den Grimm-Brüdern nicht ins Konzept ihrer Kinder- und Hausmärchen passte, mit denen sie erstmals Eltern und Kinder als Leser ansprechen wollten, haben sie rigoros gestrichen.
Das macht die Grimm’schen Märchen zu besonderem Adaptionsmaterial. Was, wenn man die „dunklen Essenzen“ ihrer Märchen neu interpretiert, Motive aus allen Versionen miteinander verknüpft, fragte ich mich? Und setzte das mit den Galgenmärchen um.
Viele andere Märchen, wie die von Andersen und Hauff, haben nicht so einen starken Wandel durchgemacht, passten entsprechend nicht zum Konzept der Galgenmärchen. Da der 30-jährige Krieg festes Setting für die Galgenmärchen wurde, war ich auf einen mitteleuropäischen Raum beschränkt, für den auch die Grimm’schen Märchen besser geeignet sind.
Hattest Du als Kind ein Lieblingsmärchen? Hast Du jetzt eins und ist es noch dasselbe?
Das ist so lange her, dass ich mich nicht daran erinnern kann. Ich denke, es muss ein Grimm’sches Märchen gewesen sein, da mein Vater mir diese zuerst vorgelesen hat.
Mein Lieblingsmärchen ist allerdings Die Schöne und das Biest von Jeanne-Marie Le Prince de Beaumont geworden. Es ist eines der wenigen europäischen Märchen, in denen es keine Liebe auf den ersten Blick zwischen zwei schönen Menschen gibt. Die „Schöne“ hat einen eigenen Kopf, weil sie Bücher liebt und belesen ist, und verliebt sich in das Biest, indem sie ihn durch gemeinsamen Gespräche näher kennenlernt und erkennt, dass unter der hässlichen Fassade ein gutherziger Mensch steckt.
Es ist erstaunlich tiefgründig für ein Märchen. Mich hat daran nur immer enttäuscht, dass es seine eigene Botschaft am Ende übergeht, wo sich das Biest als gut aussehender Prinz entpuppt. In meinem High Fantasy Die Schönheit des Biests, mit dem ich mich demnächst bei Verlagen bewerben will, habe ich das sofort neu interpretieren müssen.
Hast Du für Deine Buchreihe recherchiert und falls ja, wie sah die Recherche aus?
Und wie ich recherchiert habe! Das ist nicht anders möglich, wenn man über den 30-jährigen Krieg schreiben will.
Für jedes Galgenmärchen mache ich grundsätzlich zwei verschiedene Recherchen: Einmal schaue ich mir die Entstehungsgeschichte des Märchens an, das ich adaptieren will, und recherchiere dann die Jahreszeit, in der die Geschichte spielen soll.
Ersteres mache ich, um Inspiration für die Story zu bekommen. Frühere Versionen Grimm’scher Märchen haben teils ganz andere Verläufe. Auch ist es spannend, sich anzuschauen, was die literarische Forschung zu den jeweiligen Märchen sagt.
Die historische Recherche ist dagegen weniger abstrakt, umfasst politisches Geschehen zur Zeit des 30-jährigen Krieges, was Leute damals an Kleidung trugen, welche Währung es gab, wie Steuern funktionierten …
Wenn ich mich hier nicht in Büchern vergrabe, suche ich mir mein Wissen aus öffentlichen Online-Quellen entsprechender Universitäten zusammen. Gelobt sei das Internet!
Manchmal gehe ich auch an bestimmte Orte, um schlauer zu werden. Für Kindsräuber bin ich bei einem Wochenende in Prag die ganze Prager Burg abgegangen, nur um zu prüfen, ob ich sie auch richtig beschrieben habe in der Geschichte. Wenn man es wollte, könnte man mit dem Buch in der Hand problemlos eine „Kindsräuber“-Tour machen.
Was war das seltsamste/witzigste Thema, über das du jemals recherchiert hast?
Das hat nichts mit meinen Galgenmärchen, sondern mit meiner Nebentätigkeit als Lektorin zu tun. Ich lektoriere öfter für den dead soft Verlag, der Gay Romance verlegt, und es hat sich ergeben, dass mich auch privat immer wieder queere Aufträge erreichen.
Da Romantik oftmals intimer werden und in kinky Territorien gehen kann, komme ich manchmal mit Sexbeschreibungen in Berührungen, wo ich mich fragen muss: Ist das so realistisch? Klappt das anatomisch überhaupt?
Wenn ich dann nicht direkt meinen Partner (männlich) dazu befrage, muss Google herhalten. Mehr sage ich nicht dazu, nur, dass ich nicht grundlos meine Chronik öfter lösche *lach*
Mit jedem neuen Abenteuer wird Deine Welt größer. Wie behältst Du die Details aus den jeweiligen Büchern im Auge?
Durch Listen. Zig Listen, die auf meinem Laptop gespeichert sind.
Es kommt bei jedem neuen Galgenmärchen eine Liste mit einer Zusammenfassung dazu, damit ich nicht mit Jahreszahlen und bisherigen Figuren durcheinander komme.
Wie bist Du zum Schreiben gekommen und verrätst Du uns, worum es in der allerersten Geschichte ging, die Du erfunden hast?
Mit Stempeln habe ich schon Geschichten gestanzt, bevor ich Schreiben gelernt habe. Die ersten geschriebenen Geschichten kamen natürlich später.
Ich weiß, dass ich in der Grundschule einiges verfasst habe, sogar Gedichte. So gut wie alles ist aber verloren gegangen, was ich heute sehr bedauere. Darum kann ich nicht sagen, worum es in meiner ersten Geschichte ging.
Wohl aber, worum sich mein erster Manuskript-Versuch als Grundschülerin drehte: Einhörner! Ich hatte da den Film Das letzte Einhorn für mich entdeckt, gleichzeitig die Verfilmungen von Herr der Ringe.
Heraus kam ein erstaunlicher blutiger Dark-Fantasy-Mischmasch mit einem Cast, das vornehmlich aus sprechenden Einhörnern bestand. Es gab sogar eine Art Fellowship, wo der letzte Phönix und ein Long-Drache als Lehrmeister mit dabei waren …
Zusammenfassend, es war höchst peinlich.
Was inspiriert Dich?
Die Welt und die Menschen, in guten wie in schlechten Dingen.
Woran arbeitest du gerade?
Ich lasse zurzeit über das nächste Galgenmärchen auf meinen Social-Media-Kanälen abstimmen, werde es November 2017 zu schreiben beginnen.
Außerdem beende ich gerade die Überarbeitung des 600 Seiten starken Fantay-Epos Die Schönheit des Biests.
Danach werde ich mich an die Überarbeitung des 500-Seiten-Science-Fictions Roboter Engel machen. Beide Titel möchte ich ausnahmsweise Verlagen anbieten.
Mit dem Selfpublishing soll es nach dem nächsten Galgenmärchen weitergehen. Ich plotte bereits an dem fantastischen Psycho-Thriller Koma-Träume (noch ganz geheim, nicht einmal auf meiner Seite vorgestellt), den ich am Kindle Storyteller Award 2018 teilnehmen lassen möchte.
Wer mehr lesen möchte oder demnächst erfahren, was das neue Galgenmärchen wird – hier sind all meine Projekte vorgestellt: norabendzko.com/mein-schreiben
Vielen Dank!
Mehr über Nora Bendzko und ihre Bücher erfahrt ihr auf ihrer Website.