Alles schien Lung so vertraut. Der nebelverhangene Wald vor dem Höhleneingang. Der Geruch des nahen Meeres in der kalten Morgenluft. Jedes Blatt und jede Blüte erinnerten ihn an die schottischen Berge, in denen er aufgewachsen war. Aber Schottland war weit, ebenso wie der Saum des Himmels, das Tal, das die letzten Drachen dieser Welt seit zwei Jahren ihr Zuhause nannten. – Cornelia Funke, Die Feder eines Greifs
Vor neunzehn Jahren verzauberte Cornelia Funkes Drachenreiter seine Leser mit der Geschichte über den Waisenjungen Ben und den Drachen Lung. Nun stürzt sich das ungleiche Duo mit Die Feder eines Greifs in ein neues Abenteuer.
Funkes zweiter Drachenreiter-Band führt uns zurück in die Welt der Kobolde, Drachen und anderer Wundertiere. Zwei Jahre sind seit den Ereignissen in Drachenreiter vergangen und Ben hat bei den Wiesengrunds eine Familie gefunden. Nicht nur das: Als Ziehsohn von Barnabas und Vita ist er nun aktives Mitglied von FREEFAB, einer Organisation, die sich dem Schutz bedrohter (Fabel)tierarten verschrieben hat. Die Rettung eines besonderen Fabeltiers stellt dann auch die Handlung von Die Feder eines Greifs: Ben und Co. müssen die Eier des letzten Pegasus retten und dazu brauchen sie die Sonnenfeder eines Greifs. Die Suche nach diesem gefährlichsten aller Fabeltiere führt Ben und Barnabas einmal quer über den Globus bis nach Indonesien.
Wie auch sein Vorgänger, lebt Die Feder eines Greifs von seinen liebenswerten Figuren. Fans des ersten Buches treffen auf alte Bekannte wie Fliegenbein, den treuen, und immer noch höchst nervösen Homunkulus. Dazu kommen neue Freunde, zum Beispiel der Troll Hothbrodd, der mit seiner Rindenhaut und seinem guten Herz das Sprichwort raue Schale, weicher Kern verkörpert.
Natürlich gibt es auch schauerliche Gegenspieler, die den Drachen Nesselbrand an List und Tücke sogar noch übertrumpfen. Gleichzeitig jedoch stellt das Buch einfache Vorstellungen von Gut und Böse auf den Kopf. So verläuft etwa die Grenze zwischen Freund und Feind nicht zwischen den Spezies. Eigenschaften wie Gier und Grausamkeit finden sich sowohl bei Greifen als auch bei Menschen, ebenso wie Güte und Selbstlosigkeit. Jedes lebende Wesen trifft eine selbstbestimmte Entscheidung, wie es mit den anderen Bewohnern unserer Welt umgehen möchte. Diese Botschaft ist mit die stärkste in Funkes Buch, gleich neben dem unerschütterlichen Glauben an den Wert der Freundschaft. Lung und Ben, soviel sei gesagt, beschützen sich wieder gegenseitig – auch wenn sie zunächst getrennte Wege gehen.
Zu guter Letzt überzeugt das Buch wieder mit seiner Liebe zum Detail, zu sehen in Funkes aufwendigen Zeichnungen und der Umschreibung ihrer Schauplätze. Egal, ob sie eine geheime Schutzstation für Fabeltiere in Norwegen oder einen Tempel in Indien beschreibt, Funke schafft atmende Orte. Mit ihren Büchern auf eine Weltreise zu gehen ist fast so gut, als würde man selbst die Koffer packen.
Die Feder eines Greifs ist ein Hoffnungsbuch, eine Abenteuergeschichte, und ein schillernder Reisebericht. Diese gelungene Kombination macht das Buch zu einem idealen Weihnachtsgeschenk für Kinder und alle, die im Herzen ein bisschen Kind geblieben sind. Denn, wie Funke in einem Interview jüngst sagte, wer möchte nicht gerne ein Drachenreiter sein?
(Diese Gatrezension stammt von Dr. Kat)