Träumen und lieben und vögeln. Nichts davon definiert uns. Vielleicht in den Augen anderer, aber nicht für uns. Wir sind so viel komplizierter als das.
“Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt” von David Levithan ist einer der besten Romane über, aber nicht nur für schwule Jugendliche, den ich jemals gelesen habe. Seit “Die Mitte der Welt” hat mich kein Jugendbuch zu diesem Thema mehr so gefesselt, und keins zuvor hat mich jemals so bewegt: “Two Boys Kissing” ist großartig.
Die zwei Jungs, die sich küssen, sind Harry und Craig. Und jede Sekunde zählt, weil sie im Rasen des Vorhofs ihrer Highschool versuchen, den Weltrekord für den längsten Kuss der Welt zu küssen, der bei über 32 Stunden liegt. Sie tun das nicht für sich, sondern weil sie ein Zeichen setzen wollen. Weil Tariq, ein Freund von ihnen, vor kurzem brutal verprügelt wurde, nur weil er schwul ist. Sie tun das, weil die Welt sehen soll, dass ein Kuss zwischen zwei Jungs nichts schlimmes ist, davon die Welt nicht unter geht.
“Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt” ist aber nicht nur ihre Geschichte. Während Harry und Craig sich küssen, erzählt Neil seinen Eltern endlich, dass er schwul ist, Cooper versucht verzweifelt, einen Ausweg aus einem Leben zu finden, das er als nicht mehr lebenswert erachtet, und Avery trifft sich auf ein erstes Date mit dem gleichaltrigen Ryan und überlegt dabei krampfhaft, wie er diesem erklären kann, dass er ursprünglich im Körper eines Mädchens geboren wurde, ohne ihn zu verschrecken.
Wir wissen, dass manche von euch immer noch Angst haben. Wir wissen, dass manche von euch immer noch den Mund halten. Nur weil es jetzt besser ist, heißt das noch lange nicht, dass es immer gut ist.
Was für ein tolles Buch. Bereits vor ein paar Monaten war ich begeistert davon, wie “Simon vs The Homo Sapiens Agenda” das Thema Coming Out lockerleicht behandelte. David Levithan geht aber noch einen Schritt weiter, denn nicht nur geht es um mehrere schwule Jugendliche und darum, welche Gedanken sie sich machen, welche Sorgen und Hoffnungen sie mit sich tragen und wie unterschiedlich ihr jeweiliger Alltag ist. Er lässt darüber hinaus die Geschichte(n) von einem Kollektiv Geister verstorbener Schwuler erzählen – das klingt total schräg, aber man, funktioniert das. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Levithan nicht verschweigt, dass auch “wir Schwule” Indviduen sind, die manchmal große Scheiße bauen können, vor allem aber auch, weil man so noch unglaublich viel über die Generationen vor uns erfährt, die Generation der AIDS-Pandemie und darüber, was es damals bedeutet hat, schwul zu sein. Insofern ist “Two Boys Kissing” (sowohl für Homo- als auch für Heteros) äußerst lehrreich, ohne trocken zu sein.
Wie war das damals? Als es noch weniger homosexuelle Vorbilder und Rollenmodelle gab. Was bedeutet Schwulsein? Wie war das für die Leute damals? Wie ist das jetzt?
[Eine einzige Eigenschaft eines Menschen kann dazu führen], dass er und Tausende seinesgleichen sterben müssen, weil niemand über die Krankheit spricht, die sie umbringt, und niemand Geld dafür ausgeben will, damit sie am Leben bleiben. (…) Es ist ein grauenhafter Gedanke: Hätte die Krankheit mehrheitlich Vorsitzende von Schulvereinigungen oder Priester oder weiße, weibliche Teenager befallen, wäre ihrer Ausbreitung Jahre früher ein Ende gesetzt worden, und Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende, hätten gerettet werden können.
Durch diese Themen, diese Überlegungen berührt David Levithan sein Publikum. Und trotzdem ist “Two Boys Kissing” kein Problembuch, sondern ein wunderbarer Roman, der sich mit Themen wie Liebe, Angst und Hass, das Verhältnis von Eltern und Kindern, Mut und Erwachsenwerden beschäftigt – und das sind Themen, die eben nicht nur schwule Jugendliche angehen, sondern generell interessant sind. Dass es dem Autor gelingt, uns diese Themen, diese Gefühle so nahezubringen, so eindringlich und nachvollziehbar zu beschreiben, ist ein besonderer Verdienst.
Das ist ein Buch, das gut als Schullektüre eignet ebenso wie als eigener privater kleiner Genre-Schatz. Mit viel Feingefühl erzählt David Levithan seine Geschichten, berührt und macht Mut, es zaubert Lächeln auf das Gesicht und Tränen in die Augen – und deshalb hoffe ich, dass es auch hierzulande viele Leser findet – ob nun schwul oder nicht.
Unbedingt lesenswert!